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KEVIN MORBY

Leise in den Sonnenuntergang

KEVIN MORBY

Unverhofft kommt oft: Nach dem letztes Jahr veröffentlichten Doppelalbum ´Oh My God´, auf dem Kevin Morby nicht mit großen Gesten geizte, erscheint nun mit ´Sundowner´ ein betont zurückgenommenes, ja, ruhiges Werk, auf dem der smarte Indierock-Tausendsassa aus Kansas City, Missouri, fast alle Instrumente im Alleingang spielt, um das Zwielicht des amerikanischen Mittelwestens – seine tiefe, wenn auch nicht immer unmittelbare Schönheit – in warmtönenden Klängen festzuhalten und seinem beeindruckenden Schaffen so neue und unerwartete Facetten hinzuzufügen.

Kevin Morby sitzt nicht gerne still. ´Sundowner´ ist bereits sein sechstes Studioalbum in weniger als sieben Jahren, dazu gesellen sich noch eine Handvoll Non-Album-Singles und gerade in den letzten Jahren weltweite Tourneen, für die das alte Fußballermotto „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ zu gelten scheint. Selbst die COVID-19-Pandemie konnte ihn trotz einer Vielzahl abgesagter Konzerte kaum bremsen. Erst suchte er sofort zu Beginn des Lockdowns die Verbindung zu seinen Fans, als er mit einer Reihe von wunderbar spontanen Live-Streams gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Katie Crutchfield (alias Waxahatchee) begeisterte, derzeit führt er bei virtuellen Konzerten aus seinem eigenen Haus jeden Donnerstag eines seiner Werke komplett auf, bis er punktgenau zur Veröffentlichung Mitte Oktober bei ´Sundowner´ ankommen wird. Zwischendurch fand er zudem noch die Zeit, der besagten neuen LP den letzten Schliff zu verpassen.

Trotzdem hat das Virus selbstverständlich auch sein Leben verändert.

„Ich brauchte dringend eine Pause, die ich mir nie gegönnt hätte, bis ich nun dazu gezwungen wurde“, gesteht er beim Videochat aus seinem Heimstudio in Kansas City. „Wenn ich jetzt zurückschaue, ist es für mich nur schwer vorstellbar, wie ich all die für die letzten Monate geplanten Konzertreisen hätte bewältigen sollen. Trotzdem ist es natürlich eine seltsame Situation, wissend, für wieviel Schmerz und Elend das Ganze gesorgt hat. So ruhig und friedvoll meine Tage derzeit auch sind: Es gibt so viel Aufruhr, dass es sich nicht wie Urlaub anfühlt. Gleichzeitig bin ich über die Zeit zu Hause sehr froh, weil ich so mehr schlafen und gesünder leben kann und in der Lage bin, mich stärker auf mein Songwriting zu konzentrieren, nachdem zuvor viele Lieder zwischen Tür und Angel entstanden sind. Ich hoffe, dass es mir gelingt, diese positiven Aspekte in die ´neue Welt´ hinüberzuretten – wie auch immer die aussehen wird.“

Doch nicht nur die Pandemie kam unerwartet. So überlegt und zielgerichtet Morby bei seiner Arbeit sonst wirkt – ´Sundowner´ ist ein Album, das ihn gewissermaßen überrumpelt hat. Eigentlich hatte sich Morby das Tascam-4-Spur-Tonband, das beim Entdecken neuer Arbeitsweisen und der Hinwendung zum „Weniger ist mehr“-Credo der neuen LP eine wichtige Rolle spielte, zunächst nur zulegt, um den Vorgänger ´Oh My God´ fertigzustellen, stattdessen aber entstand gleich das Material für eine komplette weitere, spürbar anders klingende Platte. Hatte sich Morby in der Vergangenheit nach dem Songwriting stets Mitstreiter gesucht, um die Songs farbenfroh auszustaffieren, boten ihm sein Heimstudio und das neue 4-Spur-Gerät dieses Mal die Möglichkeit, seine eigene Band zu sein, auch wenn die dabei entstandenen Demos erst einmal niemand zu hören bekam.

„Das lag sicherlich auch ein wenig daran, dass ich bei den Aufnahmen fast alle Instrumente allein gespielt habe und deshalb zunächst etwas Angst hatte, sie überhaupt jemandem zu zeigen“, erinnert sich Morby. „Letztlich hörte mein Freund Brad Cook die Songs und ermunterte mich, daraus eine Platte zu machen.“

Mit Cook als Co-Produzent an seiner Seite und James Krivchenia von Big Thief als Mitstreiter bei einigen ausgewählten Stücken spielte Morby die Lieder bereits im Januar 2019 im Sonic Ranch Recording Studio in Tornillo, Texas, erneut ein und übernahm auch dabei Leadgitarre, Schlagzeug, Mellotron und Pumporgel kurzerhand selbst.

Für einen Augenblick hatte Morby sogar mit dem Gedanken gespielt, gleich die Heimaufnahmen für die LP zu verwenden, wie das einst auch Bruce Springsteen bei seinem ebenfalls mit einem Tascam-4-Spur-Gerät aufgenommenen Geniestreich ´Nebraska´ getan hatte.

„Darüber habe ich tatsächlich nachgedacht“, verrät er. „Der Plan ist, die Demos irgendwann im nächsten Jahr, vielleicht als Teil einer Deluxe Edition, zu veröffentlichen, denn diese Aufnahmen sind mir sehr wichtig. Ich hatte lediglich das Gefühl, dass sich nur ein sehr kleiner Kreis an Hörern dafür interessieren würde.“ Springsteen veröffentlichte damals Demos nicht zuletzt deshalb, weil es ihm nicht gelang, die rauen Heim-Soloaufnahmen in ähnlich packende Studioversionen mit der E Street Band zu verwandeln. Morby dagegen hatte keine Probleme, die Atmosphäre der Homerecordings auch im Studio einzufangen.

„Bei Springsteen war es ja so, dass er mit seinen Soloaufnahmen zur E Street Band kam. Im Gegensatz dazu war bei mir selbst im Studio auf mich konzentriert, auch wenn Brad manchmal Bass gespielt und James einige Percussions beigesteuert hat. Letztlich habe ich im Studio genau das Gleiche gemacht wie bei den 4-Spuren-Aufnahmen – der Unterschied war lediglich das bessere Equipment, allen voran die besseren Mikrofone.“

Das Resultat ist ein Album, mit dem Morby eher einen beherzten Schritt als einen Riesensatz nach vorn macht. War ´Oh My God´ als großes, mutiges Statement konzipiert, klingt ´Sundowner´ eher wie das nächste Teil eines Puzzles, an dem er erst mit seiner Band The Babies, dann als Mitstreiter bei Woods und nun bereits seit vielen Jahren als Solist arbeitet und das noch lange nicht vollendet ist.

„Mein Ansinnen bei diesem Album war: Wenn du ganz genau hinhörst und dich wirklich auf die Platte einlässt, kann sie lauter sein als alles, was ich zuvor gemacht habe, gerade weil sie so leise ist und es so viel Platz zwischen den Tönen gibt“, erklärt er. „Es geht um eine gewisse, betont ruhige Stimmung, die für ein intimes Hörerlebnis sorgen soll. Nachdem die Konzerte zu ´Oh My God´ in großen Theatersälen mit großem Tam-Tam stattgefunden hatten, war mir dieses Mal nach Songs, die ich zur Not auch ohne Mikro am Lagerfeuer spielen kann. Das Komplizierte daran war, dass ich nicht recht wusste, wie man das der Welt würde präsentieren können, bis bizarrerweise ausgerechnet COVID-19 für den passenden Rahmen gesorgt hat.“

Doch nicht nur klanglich war es Morby ein besonderes Anliegen, den in schneller Folge und betont mühelos geschriebenen Songs ihre Ursprünglichkeit zu lassen, anstatt sie mit fehlgeleitetem Perfektionismus und volltönender Extravaganz ihres rustikalen Charmes zu berauben. Die merklich zurückgenommenen Arrangements spiegeln nicht nur den Entstehungsprozess der Lieder wider, sondern sind auch ein Abbild von Morbys Leben im Herzen von Amerika, wo er zwischen Kühen, Erdnussbutter-Sandwiches und McDonald´s nach vielen Jahren in New York und Los Angeles inzwischen wieder sein Zuhause hat.

„Ich bin hier aufgewachsen und konnte es mit 18 kaum erwarten, endlich von hier wegzukommen. Erst nachdem ich lange an den Küsten gelebt habe und dann zurückgekommen bin, ist mir das volle Potenzial der Gegend, all ihre großartigen Seiten, richtig bewusst geworden“, sagt er. „Mir gefällt, dass der Mittelwesten eine sehr zentrierende Wirkung hat. Das Ego spielt hier keine große Rolle und es gibt auch nicht viel Wettbewerb. Speziell, weil ich sonst viel an Orten unterwegs bin, in denen das ganz anders ist, gefällt es mir, einen Rückzugsort zu haben, der vollkommen normal ist.“

Dass auch aus banalen Situationen packende Songs entstehen können, beweist Morby auf ´Sundowner´ eindrucksvoll, ganz egal, ob er die ´Midwest American Sun´ besingt, sich von einem flackernden ´Campfire´ inspirieren lässt oder gleich einen Abend in seinem augenzwinkernd ´Little Los Angeles´ genannten Heim in Kansas City vertont. Dennoch bewahrt er sich das Auge für das Besondere, das für ihn den Kern eines guten Songs ausmacht.

„Man kann als Künstler nicht einfach aus einem Nichts ein Etwas machen“, sagt er bestimmt. „Du kannst nicht kurzerhand etwas erfinden und dann glauben, damit ein Publikum zu erreichen. Das funktioniert nur, wenn das, worüber du schreibst, dich auch selbst beeindruckt hat. Letztlich geht es bei guter Kunst darum, Gefühle zu transportieren, und wenn das Gefühl beim Künstler nicht da ist, wird auch das Publikum nicht darauf anspringen.“

In Morby dagegen lodert das kreative Feuer weiterhin hell, oder wie er es ausdrückt:

„Ich bin sehr froh darüber, dass ich immer noch am Ball bin. Ich bin jetzt 32 und mache professionell Musik, seit ich 19 bin. Ich weiß, was für ein Glückspilz ich bin, ob ich nun in einem Theatersaal auf der Bühne stehe, virtuelle Auftritte absolviere oder mich einfach stundenlang in mein Studio zurückziehe.“

Er hält kurz inne und fügt dann abschließend hinzu:

„Wie mein Freund, der großartige Songwriter Rodrigo Amarante, zu sagen pflegt: ´Erfolg ist, wenn du immer weitermachst!´“

Aktuelles Album: Sundowner (Dead Oceans / Cargo) VÖ 16.10.


Weitere Infos: kevinmorby.com Foto: Johnny Eastlund

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