Sleater-Kinney erfinden sich neu. Mit feinem Gespür für den Zeitgeist suchen sich die einstigen Riot-Grrrls auf ihrem Mitte August erscheinenden neuen Album ´The Center Won´t Hold´ entschlossen ganz neue Ausdrucksformen für ihr ungebrochenes Sendungsbewusstsein. Ohne ihre Vergangenheit als Amerikas beste Rockband zu vergessen, hüllen sie ihre Entrüstung über das politische Klima in ihrer amerikanischen Heimat nun in moderne Rhythmik, prägnante Synths und elektronische Effekte: der Klang einer Band, die niemandem mehr etwas zu beweisen hat, es aber trotzdem gerne tut.
Die Geschichte Sleater-Kinneys beginnt vor genau 25 Jahren in einem Keller-Proberaum in Olympia, Washington. Anfangs stellen Corin Tucker, Carrie Brownstein und Janet Weiss ihre klare politisch-feministische Haltung und raue musikalische Durchschlagskraft noch über musikalische Perfektion, doch schon wenige Jahre später sind sie eine der meistgeschätzten Bands ihrer Generation und live auf der Bühne so gut wie niemand sonst. Irgendwann wird Sleater-Kinney die unglaubliche Intensität ihrer eigenen Band allerdings zu viel. 2006 ziehen sie die Reißleine. Ihr nächstes Album, ´No Cities To Love´, erscheint erst genau zehn Jahre später und unterstreicht eindrucksvoll, dass selbst eine lange Auszeit der sagenhaften Energie des Trios nichts anhaben kann. Nach der triumphalen Welttournee, die folgt, wenden sich die Damen dennoch erst einmal wieder anderen Projekten zu. Brownstein widmet sich ihrer erfolgreichen Satire-Sketch-Show ´Portlandia´, Tucker gründet mit Peter Buck von R.E.M. und weiteren „local heroes“ ihrer Wahlheimat Portland, Oregon, die Supergroup Filthy Friends, und Weiss ist mit ihrem neuen Bandprojekt Slang aktiv. Derweil ist US-Präsident Donald Trump damit beschäftigt, all die positiven Ansätze seines Vorgängers Barack Obama ins Gegenteil zu verkehren.„Die letzten drei Jahre in den USA waren schrecklich, geradezu so, als steckten die Menschen in einer kollektiven Depression“, erklärt Tucker im Gespräch mit Westzeit. „Es war wie ein Albtraum!“
So bitter der Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten für viele Amerikaner auch ist, in künstlerischer Hinsicht wirkte er für Tucker und Sleater-Kinney geradezu inspirierend.
„Es ist uns dieses Mal sehr leichtgefallen, die Texte zu schreiben, weil wir dringend ein Ventil für unsere Gefühle brauchten und eine Möglichkeit, auf die Geschehnisse zu reagieren“, bestätigt die 46-jährige Sängerin und Gitarristin. „Mit den neuen Liedern haben wir versucht, die emotionale Last zu beschreiben, in einem Albtraum gefangen zu sein, und das Gefühl der Empörung über die frauenverachtende Taktik, die Trump benutzt hat, um Präsident zu werden. Es war schwierig, das nicht persönlich zu nehmen. Deshalb war es auch so kathartisch, die Songs zu schreiben.“
Politisches und Persönliches zu verbinden, ist für Sleater-Kinney nicht neu. Die große Emotionalität, die das Klima in den USA derzeit bestimmt, führte allerdings dazu, dass sie dieses Mal die Menschen inmitten des Chaos, ihre Niedergeschlagenheit, ihre Verlorenheit, in den Mittelpunkt stellen. Gleichzeitig freut es die drei, dass die Ideen, für die sie von Beginn an eingetreten sind, inzwischen mehr und mehr Gehör finden. Sind #metoo und eine ungewohnt starke Opposition gegen den amtierenden Präsidenten in gewisser Hinsicht fast eine verspätete Bestätigung für ihre Arbeit in all den Jahren?
„Ja“, antwortet Tucker. „Die kulturellen Veränderungen der letzten Jahre haben zur Folge, dass mehr und mehr Menschen offen für die Ideen unserer Band sind. Dass so viele der jüngeren Generation bei dem, was wir zu sagen haben, keinerlei Unbehagen mehr verspüren, ist der Wahnsinn! Bei den Menschen unserer Generation und den Älteren war das anders. Die Idee der Punk-Szene, der wir entstammen, war ja, zu provozieren und zum Nachdenken anzuregen, aber das hat bei vielen ein gewisses Unwohlsein ausgelöst. Die ´No Cities´-Tour hat uns dagegen gezeigt, dass das inzwischen überhaupt nicht mehr der Fall ist. Die jungen Leute wollten wirklich wissen, was wir zu sagen haben – und das ist großartig!“
Angespornt durch das positive Feedback auf die letzte Gastspielreise, war die Marschrichtung der neuen Platte schnell klar.
„Wir haben uns der Herausforderung gestellt, ein Album aufzunehmen, das größer und mutiger ist als alles, was wir zuvor gemacht haben“, sagt Tucker. Durch Brownsteins Umzug nach Los Angeles der Chance beraubt, die Songs von Anfang an gemeinsam im Proberaum zu entwickeln, suchte sich die Band eine neue Arbeitsmethode.
„Dieses Mal haben Carrie und ich die Songs separat geschrieben, sie aufgenommen und uns dann gegenseitig die Dateien geschickt“, verrät Tucker. „Genau das hat die neue Platte so einzigartig gemacht, denn letztlich haben wir beide Demos für komplette Songs aufgenommen, anstatt nur einzelne Ideen in den Raum zu werfen – und wir haben dabei Synthesizer benutzt.“
Der Wunsch, das Songwriting anders anzugehen und mit dem Einsatz anderer technischer Hilfsmittel aus den gewohnten Bahnen auszubrechen, war von Anfang an da, dennoch ist der prägnante Synth-Einsatz Konzept und Zufall zugleich.
„Weil wir mit Garageband und Logic gearbeitet haben, hatten wir all diese Samples und Werkzeuge zur Verfügung“, erinnert sich Tucker. „Natürlich denkst du dir da: ´Warum nicht? Warum sich da nicht ein bisschen reinfummeln und was anderes ausprobieren?´“
Glücklicherweise sind Sleater-Kinney dabei nicht der Versuchung erlegen, ihre glorreiche Vergangenheit vollkommen auszublenden. Im Studio sind deshalb mehr und mehr Gitarren hinzugekommen – wissend, dass sie ein essenzielles Element des Bandsounds sind, das man bei aller Liebe zur Veränderung nicht einfach ausradieren kann.
„Bei den Aufnahmen haben wir uns permanent auf einem schmalen Grat bewegt“, gesteht Tucker. „Einerseits haben wir uns weiter denn je von unseren Ursprüngen entfernt, weil wir dieses kribbelige Gefühl der Gefahr aufregend finden, andererseits wollten wir natürlich auch nicht auf das verzichten, was unsere Band einzigartig macht.“
Anders als viele andere Künstler, die heutzutage auch im Studio praktisch live aufnehmen, weil sie wissen, dass sie die Songs im Anschluss monatelang auf die Bühne bringen müssen, ging es Sleater-Kinney bei ´The Center Won´t Hold´ darum, das bestmögliche Studioalbum zu machen, ohne sich groß um die spätere Live-Umsetzung Gedanken zu machen.
„Genau so war´s“, bestätigt Tucker lachend. „Wir haben all diese Sorgen fahren lassen und uns ganz darauf konzentriert, etwas anderes zu machen. Wir haben uns gesagt: ´Wir werden schon einen Weg finden, das später auch auf der Bühne hinzubekommen!´“
Produziert wurde die LP von Annie Clark, besser bekannt als St. Vincent, die in den letzten Jahren immer wieder verblüffende Wege gefunden hat, mit einem höchst ambitionierten Blick über den Tellerrand Indie-Ideengut als Popmusik zu verpacken.
„Ursprünglich war nur geplant, drei Songs mit ihr als Test aufzunehmen, aber die Chemie zwischen uns stimmte einfach“, erklärt Tucker und fügt lachend hinzu: „Sie kam rein und hat sofort all unsere Erwartungen übertroffen! Nach fünf Tagen hatten wir bereits vier Songs fertig und waren auf dem besten Weg zu einer wirklich interessanten Platte. Da wussten wir: Für dieses Album kann es nur Annie als Produzentin geben!“
Clark nahm nicht nur Einfluss auf den Sound des Albums, sie mischte sich auch mehr ins Songwriting ein als alle anderen Produzenten, mit denen Sleater-Kinney in der Vergangenheit zusammengearbeitet hatten.
„Sie hatte sehr spezifische Ideen, welche Parts der Songs besonders betont werden sollten“, erinnert sich Tucker. „Uns nach 25 Karrierejahren in eine solche Beziehung zu stürzen, war für mich eine Herausforderung zur rechten Zeit, die ich sehr gerne angenommen habe. Ich glaube nicht, dass ich dazu schon bereit gewesen wäre, als ich 23 war.“
So haben Sleater-Kinney mit ´The Center Won´t Hold´ eine Platte aufgenommen, die mehr will, als nur die Gleichgesinnten zu erreichen, bei denen sie schon immer offene Türen einrennen. Mit ihrer mutigen musikalischen Neuausrichtung tragen sie ihre Ideen nun in Richtung Mainstream.
„Ich weiß nicht, ob das eine bewusste Überlegung war, aber durch die Umwälzungen in der Musikindustrie stehen einer Band wie uns heute viel mehr kommerzielle Möglichkeiten offen“, erklärt Tucker. „Ich habe das Gefühl, dass es im Streaming-Bereich ein Publikum für uns gibt, das uns bisher noch nicht kannte und das in der Tat durch uns eine neue Sichtweise kennenlernen könnte. Das ist eine Chance, die wir ergreifen wollten.“
Gleichzeitig haben Sleater-Kinney aber auch kein Problem damit, nun den Lohn für ihre jahrzehntelange Pionierarbeit einzustreichen.
„Wenn es jetzt die Möglichkeit gibt, mehr Fernsehauftritte zu absolvieren, dann sind wir dazu bereit, und wenn ein Streaming-Anbieter auf uns zukommt und mit uns eine Strategie entwickeln will, dann ja, sind wir auch dafür offen“, sagt Tucker, bevor sie abschließend lachend hinzufügt: „Ich denke schon, dass wir es uns nach all den Jahren verdient haben, etwas mehr Aufmerksamkeit zu erhalten!“
Aktuelles Album: The Center Won´t Hold (Mom+Pop / Caroline International) VÖ: 16.08.
Weitere Infos: www.sleater-kinney.com