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JOHANNES OERDING

Lieder als Ventil

JOHANNES OERDING

15.000 Handpaare fliegen vergangenen Sommer in Losheim am See in die Luft, als er auf der Bühne steht. Da springt selbst aus einem statischen Foto die pure Begeisterung. Diese Gabe erkannten bereits Künstler wie Simply Red, Ich & Ich , Stefanie Heinzmann und Ina Müller, die ihn mit auf Tour nahmen. Auch das ZDF entdeckte ihn und packte ihn jüngst in seine neue Musikreihe „zdf@bauhaus“, die der Architektur-Ikone durch junge Bands neue Aufmerksamkeit schenkt. Des Rätsels Lösung ist der Wahl-Hamburger Johannes Oerding, der, wie ihm Kultrocker Udo Lindenberg bescheinigte, eine „Kehle aus Gold“ hat und damit fast aus dem Nichts die Bühnen der Republik eroberte.

Das Lied der frühen Jahre

Ursprünglich stammt Johannes Oerding aus dem Rheinland. Das kleine Örtchen Kapellen, nahe der holländischen Grenze im Kreis Kleve ist, sein Zuhause. In der Landarzt-Familie geht es äußerst musikalisch zu. Der Opa haut regelmäßig in die Tasten. Beide Elternteile zupfen die Gitarrensaiten. Auch die vier Geschwister spielen Instrumente und treffen sicher alle Töne. Ein sangesfreudiges Völkchen sind die Oerdings noch dazu. Das zeigt sich besonders, wenn die Großfamilie eingequetscht im randvoll voll gepackten knallroten VW-Bulli in die österreichischen Berge fährt. „Da wurde schon mal vier Stunden am Stück gesungen“, erinnert sich Johannes Oerding. Am Urlaubsort zeigt Johannes Oerding dann endgültig seine Entertainerqualitäten.

„Ich habe mich im Wirtshaus auf den Stuhl gestellt und Jupp Schmitz’ ‚Denn ich bin ein rheinischer Junge’ losgeschmettert. Und schon damals wusste ich intuitiv, wie man’s macht und habe vor dem Absingen des Refrains immer ‚und alle’ gerufen“, lacht er lauthals auf. Diese Fähigkeit unmittelbar zu begeistern, die hilft im Karneval, auf der Straße, wenn er sich das Geld für das Fußballticket zusammensingt und nicht zuletzt in Schülerbands. Die bekannteste davon, Groove Keller, ist sogar eine kleines Regionalereignis. Der Weg von Johannes Oerding scheint klar vorgezeichnet. Doch geht er nach dem Abitur nach Düsseldorf, um Betriebswirtschaftslehre zu studieren.

„Da standen mir zu viele unverrückbare Zahlen, Daten und Fakten im Weg“, bekennt er ganz freimütig, „doch das Ziel eines Studienabschlusses wollte, ich einmal begonnen, doch nicht völlig in die Ecke stellen. Ich wechselte nach Holland, um dort Internationales Marketing zu studieren.“



Die Parallelität der Ereignisse

Doch wäre es nicht Johannes Oerding, wenn sich sein Leben so eindimensional entwickelt hätte. Er setzt eher auf die Parallelität von Ereignissen: er studiert in Holland, zieht nach Hamburg und musiziert, wo immer eine freie Bühne ist. Die musikalische Ereignisebene dominiert bald

„Die letzten Seiten meiner Diplomarbeit habe ich bereits im Tourbus oder noch schnell kurz vorm Auftritt in der Garderobe geschrieben“, gibt Johannes Oerding zu Protokoll. Hamburg wird für Johannes Oerding die beste Stadt, um Musik zu machen. Er singt sich quer durch die Stadt und damit quer durch Clubs. Sein Publikum erspielt sich der Vollblutmusiker durch Disziplin, Stetigkeit und Hartnäckigkeit. Waren gestern zehn Leute im Club, kann er darauf zählen, dass beim nächsten Konzert 20 dort sind. Und so weiter und so fort. Am Ende der mathematischen Kette steht 2009 seine erste komplett ausverkaufte Tournee sowie im Sommer 2010 sein erstes Soloalbum mit dem Titel „Erste Wahl.“ Auch hier lohnt erneut ein Blick auf das Dazwischen.

„Durch Zufall lernte ich Michy Reincke kennen, da wir zusammen im selben Haus in Barmbek-Süd wohnten“, sagt Johannes Oerding, „wir kamen zufällig ins Gespräch und er verschaffte mir, als damals noch unbekanntem Sänger, schnell und unkompliziert eine Reihe Auftritte. Langsam baute ich mir so ein Netzwerk auf und lernte Leute wie Eckhart Gundel von Cruiser Entertainment, die Produzenten Mark Smith oder Sven Bünger kennen.“

Letzteren hat er bis heute die Treue gehalten, haben sie doch auch das aktuelle Album „Boxer“ produziert. In der Hafenstadt hat Johannes Oerding auch einen alten Kumpel vom Niederrhein wieder getroffen, Benjamin Brauers.

„Wir kennen uns noch von der Schulband und wie der Zufall es wollte, arbeitet er inzwischen bei Cruiser Entertainment und suchte zeitgleich zu mir eine Wohnung. Das führte uns nicht nur arbeitsmäßig zueinander, sondern auch wohnungstechnisch.“



Der untypische Liedermacher

"Wann, wenn nicht jetzt“, ist nicht nur der Titel eines Liedes von Johannes Oerding, auch könnte die Frage für das Erscheinen seiner neuen Platte „Boxer“ besser nicht gestellt werden. Der Mann mit den stechenden, immer wachen, blauen Augen und dem wilden, nicht zu bändigenden Wuschelhaar ist auf einem Höhenflug.

„Ich könnte momentan von morgens bis abends Musik machen“, sagt er. Obwohl seine Kompositionen auf den ersten Blick alles haben, was Lieder eines klassischen Singer/ Songwriters ausmachen, entzieht sich Joahnnes Oerding dieser Schublade: „Das Klischee passt nicht. Ich bin weder der coole Indie-Typ, noch der melancholische Hippie mit Bart, der introvertiert und suizidgefährdet daherkommt. Ich bin ein moderner Songschreiber, das bedeutet für mich, konstruktiv Fragen zu stellen. Ich habe kein System, außer, dass die Stücke zunächst für mich ein höchstpersönliches Ventil sind. Immer, wenn mich etwas bedrückt oder auch beeindruckt, schreibe ich ein Lied darüber. Dann geht es mir schnell wieder besser. Und wenn ich das Glück habe, dass es anderen Leuten mit meinen Songs genau so geht, dass sie über ein ähnliches Problem, was sie gerade beschäftigt, mit meiner Musik und meinen Texten besser hinwegkommen, dann habe ich das gute Gefühl, dass dieser Beruf einen Sinn hat.“

Versucht man den Erfolg seiner frischen, mit Leidenschaft vorgetragenen oft nachdenklichen, selbstironischen Popsongs weiter zu beleuchten, trifft er offensichtlich mit seinem musikalischen Ausdruck und seiner Wortwahl genau den richtigen Nerv, so dass wahre Heerscharen seine Texte gern mitsingen, ohne dabei peinlich berührt zu sein. Denn die Geschichten, die Johannes Oerding erzählt, spüren dem echten Leben nach.



Der generationsübergreifende Lebensplan

Die Faszination seiner Stücke funktioniert locker generationsübergreifend.

„Ja, es ist einfach so geschehen, dass ich bei meinen Konzerten in die Gesichter von drei Generationen blicke. In die von 13-Jährigen ebenso, wie in die von 70-Jährigen“, freut er sich fast diebisch. Dabei hat er offensichtlich den Frauenversteher am besten drauf.

„Ich kann nicht leugnen, dass etwa 70 Prozent meines Publikums weiblich sind.“ Bei dieser Stimme, die niemanden kalt lässt, ist das nicht so ganz verwunderlich. Sie ist ausnehmend kräftig und wirklich hoch, leicht rau und unter tausenden Stimmen sofort herauszuhören. Sie gräbt sich geradezu in die Gefühle der Zuhörerschaft, bis sie manchmal fast vor Leidenschaft bricht. „Das ist das Echteste; denn ich versuche, in jedem Lied, das ich singe, an meine Grenzen zu gehen“, erklärt Johannes Oerding, „ich interpretiere die Lieder, ich spiele sie fast; denn ich hole mir bei jedem Stück erneut die Bilder ab, die mir durch den Kopf wanderten, als ich es geschrieben habe.“

Und noch etwas zeichnet die Stücke aus, sie funktionieren nur mit Stimme und Gitarre, sie funktionieren mit Band und sie würden mit Sicherheit sogar im großen orchestralen Rahmen funktionieren. Singen ist Johannes Oerding bereits in die Wiege gelegt, irgendwann kommt das Schreiben hinzu, ein grandioser Unterhaltungskünstler auf den Bühnenbrettern ist er ebenfalls. Das all dies nun sein Lebensinhalt ist, daran erinnert sich selber durch ein Tattoo, das er sich hat auf seinem linken Oberarm stechen lassen. Es zeigt dass klassische Gesangsmikrofon, „ein SM58-Mikrofon, ich wollte etwas, hinter dem ich ein Leben lang stehen kann, im doppelten Sinn des Wortes.“

Und eins hat uns der aufstrebende Jung-Musiker Johannes Oerding jüngst auch noch beschert. Das neue Traumpaar der deutschen Popmusik. Die Vier-Buchstaben-Postille meldet, dass die plattschnackende Entertainerin Ina Müller nunmehr an seiner Seite schreitet.

Aktuelles Album: Boxer (Columbia / Sony)

Foto: Andreas Oetker-Kast

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