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1968. Die große Unschuld

Kunsthalle Bielefeld



Der vertraute lineare Ablauf der Zeitgeschichte zerfaserte am Rande, als Mitte der sechziger Jahre die Kunst neue Plattformen entdeckte. Versprengt durch den frischen Wind eines gesellschaftlichen Aufbruchs tröpfelten nicht nur außerhalb der Museumsmauern plötzlich der Kunst eigentlich wesensfremde Konstellationen in den Aufmerksamkeitsfokus. Stichworte wie Land Art, Konzeptkunst, Performance. Nicht die formale und geistige Strenge in Malerei und Skulptur waren gefragt, sondern gewissermaßen durch die Seitentüre betraten unverbrauchte und unverkrampfte Bilderstürmer und –innen die Tempel der hehren Kunst.

Körperlichkeit, Provokation, Massenproduktion – alles hatte plötzlich seinen Platz und seine Berechtigung. Raus aus der Enge der Museen und Galerien, weg vom akademischen Imperativ, hin zu spielerisch-aufbegehrenden Varianten: Kunst wurde plötzlich außerhalb elitärer Zirkel zu einem breitflächig beachteten Phänomen. Dem widmet sich in einer groß angelegten Überblicksschau die Kunsthalle Bielefeld mit etwa dreihundertfünfzig Werken von einhundertfünfzig Künstlern über drei Etagen des von Philip Johnson gebauten Hauses.

Die Authentizität des Künstlers besteht darin, sich auf eigene Erfahrungen zu stützen. Er tritt sozusagen in einen Dialog mit sich selbst. Das geschieht auf herkömmliche wie neuartige Weise. Neu ist die Radikalität, mit der die Künstler ihren Körper befragen und als Performance-Mittelpunkt einsetzen. VALIE EXPORT, Yoko Ono, Vito Acconci und die Wiener Aktionisten um Otto Muehl und Hermann Nitsch fanden einen völlig neuen Begriff des Körperlichen in der Kunst. In diesem Zusammenhang steht der Begriff „unschuldig“ in Verhältnis des Künstlers zu sich und seinem Tun: er ironisiert seine Arbeit und stellt sich selbst in Frage.

Elf Ausstellungskapitel beschreiben ein Jahr des Aufbruchs, wie er parallel zur politisch-gesellschaftlichen Emanzipation voran getrieben wurde. Neben der Architektur, der Pop Art, der Lichtkunst, der Fotografie und der Land Art konzentriert sich der Blick auf Deutschland, die seit 1963 internationalen Anschluss fand. Dafür stehen Namen wie Sigmar Polke, Gerhard Richter, Joseph Beuys und Franz Erhard Walther. In der Abteilung Conceptual Art finden sich Werke, die überwiegend im Kopf existieren und keiner materiellen Umsetzung erfordern, z.B. Kunst von Art & Language, Lawrence Weiner und Joseph Kosuth. Besonders verbunden mit den sechziger Jahren sind Performance und Aktionismus, die auch politisch explosive Aktionen im Osten Europas durch Künstler wie Milan Knizák oder der Red Peristil Group hervor brachten. B + W Hein, Kurt Kren und Marcel Broodthaers stehen für eine Generation junger Filmemacher und Künstler, die den Film auf seine Materialität hin untersuchen und dabei den „Film im Film“ entdecken. Und sie beschäftigen sich mit dem noch jungen Medium Video, um damit Aktionen und Performances aufzunehmen.

Im Spannungsfeld Mensch – Natur bewegte sich die Arte Povera, ein Begriff, der einen bewussten Umfang mit rohen, „armen“ Materialien beschreibt und der 1967 von Germano Gelant eingeführt wurde. Damit befassten sich Künstler wie Giovanni Anselmo, Mario Merz und Jannis Kounellis. Einen feministischen Befreiungsschlag wagten um 1968 verstärkt Künstlerinnen wie Yoko Ono, Louise Bourgeois oder Rebecca Horn, die dominant und aufrecht in die von heterosexuellen Männern beherrschte Kunstszene hinein drängten. Frech und sexuell unmissverständlich klagten sie gesellschaftliche Diskriminierung an, wälzten sich aber genauso prägnant in persönlichen Neurosen und Ängsten.

1968 galt es, aus den herkömmlichen Kunstbetriebsstätten und Museumslandschaften auszubrechen. Man werkelte in Wüsten und Denkfabriken, in ursprünglicher Natur und hinter den Wänden der Moderne. Es war das kreative Ich, dass sich selbst zunehmend in den Mittelpunkt stellte. Dieser in Teilbereichen bis heute andauernden Tendenz geht die Kunsthalle Bielefeld mit rund 300 Werken von mehr als 150 internationalen Künstlerinnen und Künstlern auf den Grund.
Bis 02.08.2009. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Str. 5, 33602 Bielefeld Öffnungszeiten: täglich 11–18 Uhr, Mi 11–21 Uhr, Sa 10–18 Uhr, montags geschlossen Pfingstsonntag und –Montag und am Maifeiertag geöffnet Eintrittspreise: 7/ermäßigt 2 bis 5 Euro, Familienkarte 14 Euro, Jahreskarte 35/25 Euro Katalogbuch (DuMont) 28 Euro
Weitere Infos: www.kunsthalle-bielefeld.de


Mai 2009
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