
Vom Suchen und Finden neuer Herausforderungen: Es ist noch gar nicht so lange her, da war Sharon van Etten das Maß aller Dinge in der Welt des Indie-Folk. Ewig dauerte es allerdings nicht, bis viele maßgeblich von ihr inspirierte Newcomerinnen der heute 44-jährige Amerikanerin den Rang abliefen. Verwunderlich war das nicht: mit einem Umzug von New York nach Los Angeles und der Geburt ihres Sohnes begannen sich van Ettens künstlerische wie private Prioritäten ein Stück weit zu verschieben. Auf ihren letzten beiden Platten – ´Remind Me Tomorrow´ (2019) und ´We've Been Going About This All Wrong´ (2022) – war zwar das Bemühen erkennbar, ihre veränderten Lebensumstände auch klanglich in ein neues Licht zu tauchen, so richtig erreicht hat sie ihre neuen Ziele aber erst mit der just veröffentlichten LP ´Sharon Van Etten And The Attachment Theory´. Das gilt auch für ihre Konzerte: Nachdem sie in der Vergangenheit in Deutschland nie das Publikum erreicht hatte, das sie schon lange verdient hatte, ist ihr aktuelles Gastspiel in Berlin schon Wochen vorher ausverkauft – und das, obwohl sie hierzulande noch in einer größeren Location aufgetreten ist. Mit der gleichen Band – plus Tourgitarristin – im Rücken, mit der sie auch die neue LP gemeinsam geschrieben und aufgenommen hat, spiegelt der leicht unterkühlte Auftritt die Nähe zu den Cocteau Twins und Siouxsie And The Banshees wider, die schon in den oft Synth-lastigen Arrangements auf der LP unüberhörbar war. Live geht Van Etten sogar noch einen Schritt weiter, denn selbst bei den wenigen Rückgriffen auf die Vergangenheit krempelt sie ´Every Time The Sun Comes Up´, ´Taking Chances´ und das David Lynch gewidmete ´Tarifa´ so um, dass sich die Songs klanglich nahtlos in die in Bühnennebel und violette Lichtblitze gehüllten Highlights der letzten Jahre einfügen und einen ähnlichen 80s-Electro-Pop-Charme versprühen wie ´Anything´, ´Southern Life´ und der heimliche Superhit ´Seventeen´. Doch so beeindruckend Van Ettens Transformation von der traurigen Indie-Folk-Sängerin zu einer formidablen Rock-Frontfrau auch ist: Die heitere Leichtigkeit, mit der sie in der Vergangenheit bisweilen im Stile eines Stand-up-Comedians durch ihre Shows geführt hatte, und die Spontaneität, die zuvor auch schon mal Publikumswünsche möglich machten, sind jetzt einer perfektionierten, bis ins letzte Detail durchdachten Show gewichen, in der die Ansagen zwar weiterhin herzlich, aber dennoch spürbar ernster sind – und das nicht nur, wenn sie kurz auf die politischen Umwälzungen in den USA zu sprechen kommt. Doch auch wenn aus dem Blickwinkel langjähriger Fans vielleicht nicht jede Veränderung zwangsläufig ein Schritt nach vorn ist, beweist die euphorische Reaktion des entzückten Publikums, dass Sharon Van Etten bei ihrer Metamorphose am Ende doch alles richtig gemacht hat.
Weitere Infos: sharonvanetten.com