Wie leicht es doch ist, wenn man die Dinge aus den richtigen Gründen angeht. In Zeiten, in denen immer mehr Festivals am Reißbrett zu entstehen scheinen, kommerzielle Erwägungen, Quotenregelungen und Gedanken zur Nachhaltigkeit – die, da gibt es kein Vertun, alle ihre Berechtigung haben – bisweilen wichtiger zu sein scheinen als die Musik an sich, ist das Golden Leaves Festival in Darmstadt die wohltuende Ausnahme. „Spread Love For Great Music“ lautet das Motto der fabulösen Drei-Tages-Sause zum Ausklang des Sommers, mit dem die Menschen der Bedroomdisco, die das GLF nun schon seit 2012 veranstalten, auf das simple Erfolgsrezept vertrauen, schlichtweg Lieblingsmusik auf die Bühne zu bringen. Alles andere ergibt sich dann (fast) von allein.
Auch beim Golden Leaves Festival ist man inzwischen katastrophenerprobt: Nach zwei wegen COVID-19 ausgefallenen Ausgaben 2020 und 2021 wäre beinahe kurzfristig auch das diesjährige Open Air ins Wasser gefallen – ironischerweise übrigens wegen zu wenig Wasser: Wegen akuter Gras- und Waldbrandgefahr war eine Durchführung am schön im Grünen gelegenen Jagdschloss Kranichstein leider plötzlich nicht mehr möglich, doch zum Glück konnte schnell ein Umzug auf den nicht weit entfernten Messplatz organisiert werden. Auch hier gabs zwei pausenlos, aber ohne Überschneidungen bespielte Bühnen, Fressbuden, Aktionsstände und Liegestühle für die Pausen, die das brillante Programm kaum erlauben wollte. Zugegeben, ein kleiner Dämpfer war der Umzug vom Park auf den Parkplatz schon, doch während andere Freilichtveranstaltungen heute die Atmosphäre vor Ort über das Programm stellen und oft die Gimmicks drumherum mehr Spaß machen als die Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne, startete das GLF gleich am Freitag um 17:30 Uhr mit einem echten Highlight – oder besser gesagt, dem ersten von vielen.Oben: Alli Neumann | Yard Act | Thees Uhlmann
Mitte: Cassandra Jenkins | Sudan Archives | Mini Trees
Unten: The Weather Station | Los Bitchos | Charlie Cunningham | Kevin Morby
Mit drei Musikrinnen und Musikern im Rücken führt uns die Amerikanerin Mackenzie Scott alias Torres in 45 Minuten einmal quer durch ihre abwechslungsreiche Karriere und kann dabei gerade im Rockmodus mit den Songs ihres aktuellen Albums ´Thirstier´ faszinieren. Trotz der frühen Stunde ist vor der Bühne schon reichlich Publikum, das sich nur allzu gerne von der Power der Band einfangen lässt, zumal Scotts expressive Mimik unterstreicht, dass sie hier von echten Gefühlen singt und deshalb jede Zeile, jeder Ton extra viel Gewicht bekommt.
Alli Neumann hat sich für den GLF-Auftritt auf der Hauptbühne mit sechs Supportshows für Coldplay in Fußballstadien warmgespielt, und das hat offensichtlich bestens funktioniert. Man muss ihre Musik gar nicht mögen, man muss sich auch gar nicht mit ihren Texten identifizieren können, für eine Festivalbühne allerdings ist sie mit ihrer vierköpfigen Band einfach eine Idealbesetzung. Die in Nordfriesland heimische Musikerin sprüht nur so vor Begeisterungsfähigkeit und Charisma, und deshalb nimmt man ihr alles ab, was sie sagt oder tut, und kann schon nach wenigen Sekunden nicht anders, als sich von den positiven Vibes ihrer deutschsprachigen Popsongs und ihrem expressiven Bühnengebaren mitreißen zu lassen.
Wie man das Publikum mitreißt, wissen auch Yard Act: Die vier „Lads“ aus dem nordenglischen Leeds, die sich dieses Jahr mit Wet Leg einen Wettlauf um die Krone für die Newcomer des Jahres liefern, begeistern beim GLF mit (post-)punkiger Wucht, einem Gitarristen, der mit Walrossbart, Shorts und unbändigem Bewegungsdrang schon mal die Gitarre wie ein Gewehr in Anschlag bringt oder sie kurzerhand unangespitzt in den Verstärker rammt, und einem arschcoolen Sänger, der sich in bestem Deutsch zwischen den Songs um Kopf und Kragen redet, „weil wir sonst die 45 Minuten nicht vollkriegen“. Was für ein Spaß!
Fil Bo Riva sorgt danach mit Songwriter-Einerlei für gepflegte Langeweile, dagegen ist Thees Uhlmann zum Abschluss des ersten Tages in Topform. Mit Feuereifer stürzt er sich nicht nur in seine Songs, zu jedem Lied gibt es lebensverändernde Geschichten, die mal anrührend, mal lustig und mal auch einfach nur albern sind, und weil das Hamburger Unikum am Ende auch noch ausschweifend über legendäre Abende in Darmstadt, in der Centralstation und der Oetinger Villa fabuliert, muss am Ende wegen der drohenden Curfew ein Lied von der Setlist weichen – und trotzdem hat Uhlmann an diesem Abend einfach alles richtig gemacht.
Das aus Großbritannien stammende, musikalisch aber eher in den USA verwurzelte Quartett King Hannah beweist zum Auftakt des zweiten Tages, dass sein psychedelisch umspielter Zeitlupen-Blues im Dunstkreis von Indie und Americana auch bei Tageslicht eine Wucht ist, und macht sich so nicht nur mit seinem Wahnsinnscover von Bruce Springsteens ´State Trooper´ schnell viele neue Freunde.
Cassandra Jenkins gebührt danach nicht nur wegen ihrer verspiegelten Sonnenbrille der Preis für den coolsten Auftritt. Solo, aber nicht allein gelingt es der New Yorker Singer/Songwriterin mit Stimme, Gitarre und dezenten Backingtracks, die einmalige Gänsehautstimmung ihres fantastischen aktuellen Albums ´An Overview On Phenomenal Nature´ mit dem perfekten Maß an zusätzlicher Dringlichkeit für die Festivalbühne zu adaptieren, und findet so für sich und das hingerissene Publikum genau das richtige Setting für ihre düsteren, aber mit viel Liebe gestalteten Ambient-Folk-Songs über persönliche Tragödien und die Wirren unserer Zeit.
Die Sängerin, Produzentin und Violinistin Britney Parks alias Sudan Archives sorgt derweil mit ihren hypermodernen R´n´B-Visionen auf der Hauptbühne für echtes Kontrastprogramm und bleibt deshalb nicht nur wegen ihres schillernden Äußeren, sondern vor allem auch ob ihres genresprengenden künstlerischen Ansatzes in Erinnerung. Auch Sharktank sind Genregrenzen fremd. Selbstironisch, humorvoll – als Intro gibt es ´Campari Soda´ von Taxi zu hören! – stürzt sich das Schweizer Quintett in seinen kunterbunten Crossoversound, bei dem wie einst bei Chumbawamba zwischen der zeitlosen Eingängigkeit des Pop und dem smoothen Flow des Hip-Hop alles erlaubt scheint. Stillstehen ist hier unmöglich, und folglich hatte zuvor kein Act so viel Alarm vor der Bühne zu verzeichnen. Dass das auch die Band selbst überrascht, macht sie nur noch sympathischer.
Mit viel Vorschusslorbeeren ist auch Låpsley angereist, doch auf der Hauptbühne verpufft ihr souliger Elektro-Pop aus dem Laptop erstaunlich wirkungslos. Dagegen dürfen sich Grandbrothers als die heimlichen Abräumer des Festivals feiern lassen. Mit Computer und präpariertem Flügel finden die beiden studierten Musiker Erol Sarp und Lukas Vogel neue Wege zwischen Pop und Minimal, akustischer und elektronischer Musik und treffen damit an diesem Samstagabend genau den Nerv des Publikums.
Auch Tages-Headliner Christopher Taylor alias SOHN wandelt auf ganz eigenen Pfaden. Mit seinem neuen Album ´Trust´ hat der in Katalonien heimische Brite seine Version von R´n´B, Pop und Downtempo neu ausgerichtet und dabei gewissermaßen den Weg zum Ziel erklärt. In Darmstadt präsentiert er sich trotz seiner Überflieger-Erfolge in der Vergangenheit bemerkenswert bescheiden und bodenständig und darf sich auch noch über ein Ständchen des Publikums freuen, denn er hat Geburtstag!
Grundsympathisch präsentiert sich am Sonntagnachmittag auch Lexi Vega. Die Frontfrau von Mini Trees musste ihre Band zwar daheim in Los Angeles lassen, mit Gracie Gray an den Keyboards und Beats aus dem Laptop hat sie aber trotzdem keine Mühe, die oft verträumten Indie-Pop-Perlen ihres Debüts ´Always In Motion´ auch live zum Leben zu erwecken. Songs zu den Themen des Hier und Jetzt im Sound der Gegenwart – kein Wunder, dass sie damit auf dem GLF gut ankommt.
Erstaunlich früh muss danach Lucy Dacus auf die Bühne, und vielleicht ist genau das der Grund, warum der Funke nicht so wirklich überspringen will. So echt, so tiefgründig die Gefühle sind, die das Gerüst für die Songs der amerikanischen Indie-Folk-Heroine sind, so glatt wirkt ihr Auftreten mit ihrer seltsam zusammengewürfelten Proficombo im Rücken. Dass sie kurz vor Ende ´Believe´ von Cher covert und man nicht sicher sein kann, ob das nun ernst oder ironisch gemeint ist, sagt eigentlich schon alles. Sehr schade!
Tamara Lindeman kennt solche Probleme nicht. So schüchtern ihr Auftreten bisweilen auch wirkt, so deutlich ist doch die Ernsthaftigkeit spürbar, mit der die kanadische Frontfrau von The Weather Station ihre Gedanken zu den drängenden Problemen der Gegenwart in ihren federleichten, unwiderstehlich eingängigen Songs im Dunstkreis von Indie, Pop und Jazz transportiert. Dass sie am Ende noch elegant den Bogen von den Umwelt-Themen ihrer Lieder zum Klimawandel-bedingten Umzug des Festivals auf den Messplatz findet, unterstreicht: Nicht nur ihre Musik ist wohlüberlegt.
Wem The Weather Station zu ernst waren, wird gleich danach auf der Hauptbühne glücklich gemacht. Los Bitchos heißt der Gute-Laune-Express aus London, vier Damen, die sich selbst als Instrumental-Psychedelic-Sunshine-Cumbia-Band bezeichnen. Surf-Twang, ein Mördergroove und überbordende Spielfreude sorgen hier dafür, dass das Quartett eine Dreiviertelstunde lang mit dem Publikum um die Wette strahlt, bevor es sich am Ende stilecht mit einem Cover des Champs-Gassenhauers ´Tequila´ verabschiedet. Ein Heidenspaß!
Wie man Spaß und Ernsthaftigkeit perfekt verbindet, zeigt dann Martin Kohlstedt, der sich als Kapitän seines eigenen Ufos aus Keyboards und elektronischen Gadgets mit unglaublicher Virtuosität und beeindruckender Freude am eigenen Tun in seine Improvisationen stürzt. Im Anschluss vereint Charlie Cunningham auf der Hauptbühne Genialität und Gelassenheit. Gemeinsam mit seiner perfekt eingespielten Band schlägt er eine Brücke von seinem Flamenco-beeinflussten Akustikgitarrenspiel zu zeitlosen Singer/Songwriter-Tugenden und sorgt mit subtilen Zwischentönen für echte Gänsehautmomente. Kaum ein Act des Festivals hat mit so wenig Aufwand so große Wirkung erzielt!
Ähnlich wie Charlie Cunningham darf sich auch Alice Phoebe Lou über viele Zuschauerinnen und Zuschauer freuen, die speziell wegen ihr den Weg nach Darmstadt gefunden haben. Kein Wunder, hat die zierliche südafrikanische Powerfrau doch in den vergangenen Jahren mit ihren mitten aus dem Leben gepflückten, auf Herz und Kopf gleichermaßen zielenden Songs einen rasanten Aufstieg von der Straßenmusikerin zur Vorzeigefrau eines Wohlfühl-Indie-Sounds jenseits aller gängigen Kategorien hinter sich. In Darmstadt sorgt nicht nur sie mit Hits wie ´Dusk´ oder ´Witches´ gleich mehrfach für einen kollektiven Freudentaumel, sondern nimmt sich mit ´Mother´s Eyes´, das sie ihrer Mutter widmet, die an diesem Tag Geburtstag feiert, aber auch Zeit für besinnliche Momente.
Der letzte Act des Festivals ist dann wirklich auch der krönende Abschluss: Mit gleich sechs Musikerinnen und Musikern an seiner Seite zelebriert Kevin Morby beim GLF seine Vision einer Cosmic American Music und führt uns dabei chronologisch rückwärts durch sein beeindruckendes Schaffen als Solist, angefangen bei den Songs seines betont persönlich gefärbten aktuellen Albums ´This Is A Photograph´ – herausragend: das seelenvolle ´Bittersweet, TN´ im Duett mit Elizabeth Moen – über alte Favoriten wie ´Oh My God´ und ´Parade´ bis hin zum furiosen Neun-Minuten-Finale mit ´Harlem River´. „Das war unser bester Song, jetzt kommt unser zweitbester“, erklärt Morby augenzwinkernd, als er danach für eine ungeplante Zugabe zurück auf die Bühne kommt, aber ganz ehrlich: Einen schöneren Abschluss für drei grandiose Festivaltage als das wuchtige ´Dorothy´, bei dem Morbys Miniorchester ein letztes Mal alle Register zieht, hätte man sich kaum wünschen können! Wir freuen uns schon aufs nächste Jahr!
Weitere Infos: goldenleavesfestival.de