Die große Reunion-Tour des deutschen Festivalsommers geht weiter und macht zum Glück auch in Eltville im Rheingau halt: Nach dem „Heimspiel daheim“ mit Musik via Bildschirm und Wein per Post im Jahr 2020 und der Bierbank-Edition mit deutlich verringerter Besucher*innenzahl im Vorjahr ist auf dem Draiser Hof nun endlich wieder (fast) alles so, wie man es über die Jahre kennen und lieben gelernt hat. Den Auftakt machte in diesem Jahr am frühen Freitagabend David Julian Kirchner. Sowohl sein musikalischer als auch sein lyrischer Ansatz ähnelt dem seiner ‚Staatsakt‘-Labelkollegen von Isolation Berlin. Einigen dürfte er außerdem durch seine in der ARD-Mediathek verfügbare Doku-Reihe „Deutschrand“ bekannt sein, in deren Rahmen er sich in die Peripherien seiner von ihm charmant-distanziert als „Papierkramland“ bezeichneten Heimat begeben hat. Auf den gleichnamigen Song muss das Publikum an diesem Abend leider verzichten – stattdessen gibt es vor dem Auftritt (und dann noch einmal kurz währenddessen) zum einzigen Mal an diesem Wochenende eine feuchte Abkühlung von oben. Als zweiter Act betraten Husten die Bühne. Das neue Bandprojekt von Moses Schneider, Tobias Friedrich und Gisbert zu Knyphausen nutzte seinen Quasi-Heimvorteil für eine überzeugende Beinahe-Livepremiere, nachdem zahlreiche zuvor geplanten Festival- und Einzelauftritte wiederholt Corona (zuerst dem allgemeinen Lockdown, dann eigenen Erkrankungen) zum Opfer gefallen waren. Den Abschluss des ersten Festivaltages lieferten Bilderbuch aus Österreich, die über die Jahre (wieder) zu einer „echten“ Rockband geworden sind – freilich ohne ihren zwischenzeitlichen Hang zu Pop und Hip Hop völlig aufzugeben. Auch visuell machte der Auftritt einiges her, selbst wenn die hohen Absätze der Schuhe von Sänger Maurice Ernst leider nicht über die gesamte Konzertlänge hinweg durchhielten. Besser vorbereitet war man offensichtlich „obenrum“, denn nachdem der Frontmann für ein paar Songs mit nacktem Oberkörper auf der Bühne gestanden hatte, kam er mit einem (wir wollen mal vermuten: frischen) Oberteil zurück, ohne dass das Konzept der optisch perfekt aufeinander abgestimmten Bühnenoutfits dadurch durcheinander gebracht wurde. Zu den praktischsten, wenn auch nicht unbedingt nachhaltigsten Traditionen des Heimspiel-Festivals zählen die Weingläser, in die das Line Up des jeweiligen Festivaltages eingraviert ist. Sie werden kurz hinter dem Einlass an alle Besucher*innen ausgehändigt und ersetzen dann gewissermaßen die auf anderen Festivals üblichen Faltpläne. Stagetimes braucht man hier eh nicht, es gibt schließlich nur eine Bühne und keine ärgerlichen Überschneidungen. Wer sich jedoch zu sehr auf diese im wahrsten Sinne fragile Informationsquelle verließ, hatte am Festivalsamstag ein Problem, denn die Band Friedberg war erst verpflichtet worden, nachdem die Herstellung der Gläser schon in Auftrag gegeben worden war. Das schien jedoch weder Band noch Publikum zu stören, und so lieferte die multinationale Band ein solides Rock-Set ab. Auf den Gläsern verewigt sind dagegen Nichtseattle sowie klebe, die vor Friedberg mit cleverer (und manchmal durchaus sperriger) deutschsprachiger Indiemusik den zweiten Tag einläuteten – auch wenn gerade die melancholischen Songs des Nichtseattle-Albums mit dem schönen Titel „Kommunistenlibido“ als Tagesausklang vermutlich deutlich besser funktioniert hätten. Diese Funktion übernahmen später stattdessen die US-Amerikaner von Algiers und die Niederländer von Yīn Yīn, wobei während der Auftritte von ‚Ausklang‘ noch wenig zu spüren war. Vom Algiers-Auftritt werden vermutlich vor allem zwei Dinge in Erinnerung bleiben: die ekstatischen Ausdruckstänze und Gesten des Bassisten Ryan Mahan sowie der etwas überstürzt und verärgert wirkende Abgang des Frontmanns Franklin James Fisher, der schon während des Konzerts mehrere Male unzufrieden wirkte und dann quasi direkt mit dem letzten Ton den Stecker zog und sein Equipment zusammenpackte. Unabhängig davon, ob es sich hierbei tatsächlich um enttäuschten Perfektionismus, eine kalkulierte Show-Einlage oder einfach eine Missinterpretation handelte, wurde der zuvor gehörte Mix aus Rock und Soul vom Publikum begeistert aufgenommen. Yīn Yīn traten anschließend gewissermaßen in die Fußstapfen von Brandt Brauer Frick, die den Festivalsamstag 2019 ebenfalls instrumental beendet hatten. Zusätzliche Sympathiepunkte sammelten die Bandmitglieder, als sie während der Open Air-Aftershow-Disco zu den Klängen von Elton Johns „I’m Still Standing“ noch einmal für eine Tanzeinlage auf die Bühne zurückkehrten. Der dritte und letzte Tag begann mit einem Auftritt der Band Nullmillimeter, an dem sich exemplarisch zeigen lässt, was das Heimspiel, das Publikum und nicht zuletzt die auftretenden Künstler*innen ausmacht: Die fünfköpfige Band war 2019 unter dem Label ‚Heimspiel-Hoffnung‘ auf dem Festival aufgetreten. Weil die CD-Version ihrer ersten EP nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnte, verkaufte die Band im Anschluss an ihren Auftritt leere, selbstgebastelte Papierhüllen. Man konnte sich aber handschriftlich in eine Liste eintragen und bekam die CDs dann später mit dem Durchschlag eines auf einer Schreibmaschine verfassten Entschuldigungsbriefes per Post nachgeliefert. 2022 war die Band nun in Sachen Merchandise schon deutlich besser und breiter aufgestellt und konnte unter anderem ihr Album „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd“ (Tonträger diesmal direkt inliegend) unter die Leute bringen. Während des Auftritts betonte Frontfrau Naëma Faika sehr deutlich, dass der letzte Auftritt auf dem Heimspiel und die positiven Reaktionen des damaligen Publikums entscheidenden Anteil daran hatten, dass es überhaupt zu diesem Album gekommen ist. Man darf annehmen, dass die Band auch an den diesjährigen Auftritt gerne zurückdenken wird, denn auch er bot reichlich besondere Momente: zum Beispiel den Gastauftritt von Gisbert zu Knyphausen oder die „Soforthilfe“ aus dem Publikum, als Naëma beklagte, ihre Sonnenbrille nicht mit auf die Bühne genommen zu haben. Kurz danach wurde sie von einer Besucherin mit einer Brille versorgt und bekam auch einen Sonnenhut gereicht. Unvergesslich dürfte der Auftritt auch für (mindestens) zwei Personen aus dem Publikum gewesen sein: „Sind Uwe und Heidi hier?“, fragte Naëma zwischen zwei Liedern in die Runde. Diese beiden hatten bei einer Crowdfunding-Aktion mitgemacht und ein handgeschriebenes Songbook bestellt, welches sie nun von der Bühne aus mitsamt herzlicher Umarmung überreicht bekamen. Ähnlich wie die beiden Auftaktacts vom Samstag wirkte auch Lisa Morgenstern mit ihrer entrückten Musik bei strahlendstem Sonnenschein zunächst etwas deplatziert. Doch weil das Publikum gewohnt aufmerksam und konzentriert zuhörte (was auch die Künstlerin selbst sichtlich beeindruckt hervorhob), stellte sich am Ende auch diese Ansetzung als doch irgendwie stimmig heraus. Als letzte Band des Festivals bewiesen dann noch Porridge Radio aus Brighton, dass sie derzeit völlig zurecht mit positiven Kritiken überhäuft werden. Eindringlichster Moment eines an eindringlichen Momenten nicht gerade armen Konzerts: Das von Frontfrau Dana Margolin mantra-artig gesungene „I don’t wanna be loved…“ am Ende des Songs „Birthday Party“. Ob dieser eher ungewöhnliche Wunsch erfüllt wird, ist ehrlich gesagt mehr als fraglich, denn sowohl diese Band als auch das Festival als Ganzes dürfen sich der Zuneigung des Publikums wohl weiterhin sicher sein. Foto: Naëma Faika von Nullmillimeter © Ullrich Maurer
Weitere Infos: https://heimspiel-knyphausen.de/