Wer sich in den vergangenen Jahren erfolgreich eingeredet hatte, dass man auch ohne Konzerte und Festivals ein erfülltes Leben führen kann, wird spätestens nach drei Tagen im Garten von Glitterhouse Records wieder ganz genau gewusst haben, was zuletzt eben doch gefehlt hat. An erster Stelle sollte bei einem Festival natürlich immer die Musik stehen, sie ist aber bei Weitem nicht die einzige Zutat, die ein gelungenes Gesamterlebnis ausmacht. Einen ähnlich großen Stellenwert haben Begegnungen – langersehnte Wiedersehen mit Freunden und Bekannten ebenso wie unerwarteter Smalltalk mit Fremden, die sich zufällig zur gleichen Zeit wie man selbst am Getränke- oder Merch-Stand aufhalten. Beim OBS kommen Besucher*innen aber nicht nur untereinander ins Gespräch: Auch an Gelegenheiten zum Austausch mit Personen, die man anderswo meistens nur auf der Bühne zu Gesicht bekommt, mangelt es hier nicht. Zum einen, weil viele Künstler*innen vor und nach ihren Auftritten die Perspektive wechseln und ebenfalls über das Gelände schlendern, zum anderen, weil ein Meet & Greet-Stand die Möglichkeit bietet, dem Zufall bei Bedarf auch etwas auf die Sprünge zu helfen. Von der Abschottung der vergangenen Jahre, mit der versucht wurde, den Kontakt zum Publikum vor, während und nach Auftritten aus Infektionsschutzgründen zu minimieren, war hier kaum noch etwas spürbar. Das Festival glich dadurch einer einzigen ausgedehnten Therapiesitzung (für Publikum und Musiker*innen gleichermaßen!), um zuvor aufgestaute oder neu entwickelte Ängste und Phobien behutsam wieder abzubauen: So fühlt es sich also an, seinem Gegenüber einfach mal kraftvoll und freundlich die Hand zu schütteln! Natürlich herrschte in manchen Engpässen weiterhin Maskenpflicht und es dürfte nahezu allen auf dem Gelände bewusst gewesen sein, dass Corona nicht vorüber ist, sondern nur seine Gestalt wandelt, aber man merkte förmlich, wie alle Besucher*innen diese neue (und hoffentlich nicht nur vorübergehende) Rückkehr in die (Halb-)Normalität genossen: Duck the virus! Doch nun endlich zur Musik: Der erste Tag startete mit Anzugträger-Blues aus Wien (Thirsty Eyes), gefolgt von Kurzhosen-Grungepunk aus Dortmund (Drens) und Kostümball-Crossover aus Texas (Golden Dawn Arkestra). Schlechte Nachricht: Da Gisbert zu Knyphausen an Corona erkrankt war, musste sein neues Bandprojekt mit dem ungewollt perfekt auf Covid-19 abgestimmten Namen Husten seinen Auftritt leider absagen – kannste Dir nicht ausdenken sowas! Wenigstens war es seinem Bandkollegen Tobias Friedrich am Folgetag möglich, wie geplant für eine Lesung vorbeischauen. Gute Nachricht: Durch diese Absage erhielten Shirley Holmes aus Berlin kurzfristig die Gelegenheit zu beweisen, dass eine vermeintliche ‚Notlösung‘ manchmal mindestens genauso gut wie der Ursprungsplan funktionieren kann. Obwohl diese kurzfristige Änderung in der Programmübersicht des Festivalfaltblatts natürlich nicht mehr erfasst werden konnte, waren Shirley Holmes darin übrigens trotzdem vertreten, weil ‚Festivalpapa‘ Rembert Stiewe in sein Grußwort geradezu prophetisch ein treffendes Statement zur aktuellen Lage der Welt aus einem Newsletter dieser Band eingebaut hatte. Remberts Text erklärt auch, warum die Dankesreden auf der Bühne trotz merklicher Rührung über die Tatsache, dass das OBS endlich – pardon: entlich! – wieder in gewohnter Form stattfinden konnte, vergleichsweise kurz ausfielen: Bei allem Klagen über die Situation der Veranstaltungsbranche sei schließlich klar, dass alles Lamentieren angesichts von Krieg und „Klimakacke“ immer nur Jammern auf hohem Niveau sein könne. Statt vieler Worte prangte darum vom Balkon des Glitterhouse-Gebäudes lediglich ein schlichtes, aber sicherlich von Herzen kommendes „DANKE!“ für die Unterstützung der OBS-Gemeinde in den vergangenen Jahren. Auf die Baustellen und Brandherde auf diesem Planeten (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) wies auch Cash Savage mit ihrer Band The Last Drinks hin, die dem Festivalfreitag einen würdigen und zugleich nachdenklich stimmenden Abschluss verlieh. Schon 2019 hatte die Band auf dem OBS begeistert, und vermutlich gab es im Publikum viele, welche die Band wie der Schreiber dieser Zeilen beim letzten Mal noch gar nicht auf dem Zettel hatten, dann aufs Positivste überrascht wurden und ihrem diesjährigen Auftritt darum umso vorfreudiger entgegenfieberten. Der schwierige Spagat aus ernsten Themen und mitreißendem Indie-Folk-Rock glückte erneut bestens! Zum Samstagsbrunch brachte Matze Rossi dem OBS-Publikum gefälligen Deutschrock und eine Kiste Sekt mit. Letztere hätte jedoch eigentlich gar nicht zum Einsatz kommen müssen, denn sein Auftritt (zu dem zum Beispiel ein sympathischer Song über seinen Hund gehörte) hätte wohl auch ohne alkoholische ‚Bestechungsmittel‘ reichlich Applaus geerntet. Der Dreampop der Postcards und die instrumentalen Gitarrenwände von Neànder hätten stimmungstechnisch zwar deutlich besser in die Abendstunden gepasst, aber daran störte sich auf dem Festivalgelände niemand, denn die Qualität des Dargebotenen war auch im strahlenden Sonnenschein bestens erkennbar. Dazwischen lieferten Acht Eimer Hühnerherzen den Beweis, dass es eine goldrichtige Entscheidung war, diese ‚Rampensäue‘ – anders als 2020 vorgesehen – auf der Hauptbühne einzuplanen. Die Minibühne gehörte am Samstag stattdessen Jenobi und Iedereen, die sich aber (wie schon Cub & Wolf am Freitag und dann auch Philine Sonny sowie Mambo Schinki am Sonntag) durch diese Platzierung keineswegs unterschätzt oder zurückgestuft fühlen sollten. Schließlich zeigt ein Blick auf die Vorjahre, dass diese Bühne oft nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zur Mainstage war (sofern die Künstler*innen diese nicht ohnehin bereits mit anderen Bandprojekten kennengelernt hatten). Den direkten Beweis lieferten am Samstag Fortuna Ehrenfeld und Tom Allan & The Strangest, die beide zuvor schon einmal (2018 bzw. 2019) die Minibühne bespielt hatten. In diesem Jahr konnte man sich nun eindrucksvoll davon überzeugen, dass sich spielerischer Umgang mit Rockstar-Klischees (auf der Bühne) und bodenständige Fannähe (beim Meet & Greet) keineswegs ausschließen müssen. Auch im Falle von July Talk würde sich vermutlich niemand, der dem ‚Frontpaar‘ Leah Fay und Peter Dreimanis zufällig auf der Straße begegnet, auch nur ansatzweise vorstellen können, welche Energie und welchen Wahnsinn die Beiden auf der Bühne entfalten. Dass Leah einen ganzen Song lang eine Bierflasche auf ihrem Kopf balancierte, gehörte da schon fast zu den unspektakuläreren Momenten. Deutlich gemächlicher fiel dann der Abschluss des zweiten Festivaltages aus. Niels Frevert hatte nicht nur der OBS-Crew reichlich leckere Franzbrötchen aus Hamburg mitgebracht, sondern auch viele Songs seines mittlerweile nicht mehr ganz so neuen, aber noch immer hell strahlenden Albums „Putzlicht“ von 2019 im Gepäck. Es ist eine von vielen schönen OBS-Traditionen, dass der dritte und letzte Tag von einem Surprise Act eingeläutet wird. In diesem Jahr handelte es sich um D/troit, die auch schon bei der vorletzten Ausgabe des Festivals auf der Bühne gestanden hatten. 2022 führten uns die Dänen nun unter anderem das Funk- und Soul-Potential von AC/DC-Songs vor Augen. Danach gehörte die Hauptbühne dann wieder der Rockmusik in ihren diversen Ausprägungen von Blues (Mudlow und DeWolff) bis Punk (Trixsi). Echte ‚Raritäten‘ waren die famosen Auftritte der Schweizerin Emilie Zoé, die in Deutschland derzeit in Ermangelung einer Konzertagentur nur auf Festivals zu sehen ist, und der Berliner Band Hope, für die das Gastspiel auf dem OBS der einzige Auftritt des Jahres war. Bevor die sympathische Britin Eliza Shaddad das Musikprogramm mit einem (vielleicht fast schon zu) perfekten Auftritt abrundete und man nur noch auf die Pointe des Drei-Tages-Witzes wartete (noch so eine schöne, wenn auch manchmal grenzwertige Tradition…), erlebte das OBS-Publikum einen denkwürdigen Auftritt von Alex Henry Foster und seiner Band The Long Shadows. Der Kanadier setzte mit seinem düsteren Impro-Rock und der dazugehörigen Bühnenzeremonie Maßstäbe, ging nicht nur selbst crowdsurfend mit dem Publikum auf Tuchfühlung, sondern schickte auch eine Besucherin mitsamt seiner Gitarre auf die Reise. Wohlwissend, dass so viel spontane Nähe für manche in den vorderen Reihen vielleicht etwas irritierend und einschüchternd sein könnte, erklärte er beruhigend: „This is called human interaction in a safe space.“ So waren sich am Ende des Festivals wohl alle Beteiligten einig, dass Distanz auf Dauer einfach keine Option sein kann. https://orangeblossomspecial.de/ Foto: Alex Henry Foster, © Ullrich Maurer