Im vergangenen Jahr hatte Julien Baker den Lektionen in Minimalismus ihrer allenthalben in den höchsten Tönen gelobten Frühwerke den Rücken gekehrt und auf ihrem dritten Album, ´Little Oblivions´ ihr inneres Gefühlschaos, das sie ihren bedingungslos ehrlichen Texten aufarbeitet, mit Schlagzeug, elektronischen Samples und einem an traditionellere (Indie-)Rock-Tugenden angelehnten Sound in ein neues Gewand gekleidet und so auch eine ganz andere Art der Live-Umsetzung vorgezeichnet. Tatsächlich steht sie am ersten Abend ihrer noch bis Mitte Mai laufenden Deutschlandtournee am Ostersonntag nun nicht mehr allein auf der Bühne, Mit Mariah Schneider an Gitarre und Synth, Matthew Gilliam am Schlagzeug, Calvin Lauber am Bass und Noah Forbes an den Tasten hat sie jetzt vier Menschen an ihrer Seite, die ihr nicht nur musikalisch, sondern auch persönlich nahestehen und sie so mehr als nur klanglich dabei unterstützen, auf ganz andere Weise als bisher intensiv und berührend große Emotionen in packenden Tönen erfahrbar zu machen. Bei diesem auf die Lieder des aktuellen Albums konzentrierten Auftritt im stimmungsvollen Ambiente der Fabrik muss Julien nun auch das erdrückende emotionale Gewicht ihrer Lieder nicht mehr allein stemmen. So klingen plötzlich selbst die Selbstmordfantasien aus ´Heatwave´ nicht mehr so niederschmetternd, nicht mehr so bedrohlich und auch das kathartische Ende von ´Turn Out The Light´, wirkte früher beklemmender als nun auf fünf Schultern verteilt. Vielleicht auch deshalb strahlt Julien oft von Ohr zu Ohr, wenn sie sich gleich zu Beginn kopfüber in ´Hardline´ stürzt und dabei mit ein paar Shredder-Parts an ihre Punk- und Hardcore-Vergangenheit erinnert, ihre fliegenden Haare das Headbanger-Potenzial des ungemein wuchtigen ´Tokyo´ illustrieren und sie am Ende der finalen Zugabe ´Ziptie´ wie besessen über die Bühne springt, während um sie herum alle Dämme brechen. Derweil bedeutet das kurze Soloset mit Rückgriffen auf die minimalistischen Songs ihres Debüts ´Sprained Ankle´ zur Mitte des 90-Minuten-Gastspiels für Julien aber nicht nur eine Rückkehr zu ihrem alten Sound, sondern offenbar auch zu ihrem alten Ich, wenn sie faszinierenderweise für ein paar Minuten auch in puncto Mimik und Körpersprache die Uhr zurückdreht. Dennoch hat sich der Fokus ihrer Auftritte nicht nur klanglich verschoben hat: Standen bislang stets niederschmetternde Emotionen im Vordergrund, rücken nun das Vergnügen des gemeinsamen Musikmachens und des gemeinschaftlichen Musikerlebens für Band und Publikum in den Mittelpunkt: der Sound einer Künstlerin, die weiß, was es heißt, aus Krisen gestärkt hervorzugehen.
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