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FLORIAN VÖLKER

Kälte-Pop. Die Geschichte des erfolgreichsten deutschen Popmusik-Exports

(de Gruyter, 666 S., 34,95 Euro)

Was der in Potsdam am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung arbeitende Historiker hier im Rahmen seiner Dissertation abliefert, will nicht weniger sein als eine Neudeutung jenes popkulturellen Phänomens sein, das die Journaille seinerzeit (also 1979) "Neue Deutsche Welle" taufte und das nicht nur meine PopSozialisierung ganz entscheidend prägte. Dass der auf einem dem anspruchsvollen Inhalt adäquaten feinen Papier gedruckte (und im für Geisteswissenschaftler ikonischen de Gruyter-Verlag erschienene) Wälzer genau 666 Seiten hat, ist vielleicht ein kurioser Zufall - popkulturell aufgeladen ist aber nicht nur diese symbolträchtige Zahl sondern auch der Inhalt dieses erstaunlichen Werks. Völkers Grundthese ist, dass sich in Westdeutschland mit einer von ihm "78er" genannten Generation eine "Gegenkultur zur Gegenkultur" positionierte, die mit den MPi&Müsli-Vorstellungen der 68er wenig anfangen konnte und das auch musikalisch ausdrückte. Bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam war den 78ern demnach eine Faszination für das, was Völker mit "Kälte" beschreibt. Wobei er dabei unterschiedliche Ausprägungen definiert und dazu jeweils eine besonders typische Band genauer untersucht. Also den rationalistischen MusikRoboter (die "Mensch-Maschine" Kraftwerk), die subversive (Über)Affirmation (das "Ja zur Modernen Welt" von Freiwillige Selbstkontrolle), massenkompatible Resignation und "Schwarzromantik" (Ideals "Eiszeit"), Lust am Untergang (Einstürzende Neubauten "Ich steh auf Zerfall") und "Sex, Gewalt und Disziplin" (DAF forderten "Absolute Körperkontrolle"). Man mag bezweifeln, ob sich Kraftwerk oder DAF je selbst als Teil einer "Kälte"bewegung begriffen (Völker verweist hier auf die "typisch deutsch" konnotierte "kalte" Symbolik des KlangIngenieurs bzw. des stampfenden MarschRhythmus') und auch sonst wird das Leitmotiv zuweilen arg strapaziert, was in seiner Reduktion dieser (s.o.) sehr heterogenen MusikKonzepte auf eine "Kälte"Symbolik dann manchmal doch etwas konstruiert wirkt. Dennoch: nicht nur, weil ich das ganze seinerzeit zwar aus der östlichen Ferne und daher nur eingeschränkt, aber eben doch "live" miterlebt (und mich später dann durch diverse musikalische Gesamtwerke, Fanzines und Magazine gewühlt) habe, fällt mir beim Durcharbeiten des Texts immer wieder auf, dass es Völker (nicht zuletzt mit der durch eine ebenso solide wie penible Quellenrecherche und einen allen akademischen Ansprüchen gerecht werdenden Fußnotenapparat untersetzten Fülle an Anekdoten und Randgeschichten) tatsächlich gelingt, bereits Gewusstes und schon mal Gelesenes in einen neuen Kontext zu (ver)setzen. Er schreibt als Wissenschaftler, nicht als Journalist oder Essayist – und schon gar nicht als distanzlos-kritikferner Fan (wenngleich er sicher von der hier betrachteten Musik genauso begeistert ist wie ich). Dazu tastet er sich zunächst fast 250 Seiten lang durch die (Kunst)Geschichte, untersucht die NDW-Wurzeln in "historischen Avantgarden" (Expressionismus, Dada, Futurismus und Neue Sachlichkeit bis Krautrock, Industrial und Punk). Es folgt der Hauptteil mit ausführlichen Analysen v.a. zu den vorgenannten Protagonisten und schließlich eine Betrachtung der Auswirkungen: "Kälte-Pop reloaded" widmet sich Laibach, Post-Industrial und schließlich Rammstein (als Vertreter der "Neuen Deutschen Härte"). Bleibt die Laibach-Exegese noch vergleichsweise oberflächlich und konservativ, sind die Ausführungen zu Rammstein höchst reflektiert. In einer Fußnote entschuldigt sich Völker hier, dass die "Row Zero"-Sachen erst publik wurden, als sein Buch weitgehend fertig war (sicher hätte er auch hierzu noch durchaus Kluges zu sagen), aber seine Betrachtungen deuten das ZeichenSpiel der FeueRRRweRRRkeRRR dennoch sehr genau (und meiner Meinung nach auch sehr richtig) aus. Die kurze Betrachtung der "Kälte"-Phänomene in der DDR-Subkultur der 80er bleibt hingegen etwas seicht, hier wird oft die individuelle, aber vielleicht nicht immer objektive Sichtweise von meinungsstarken "Päpsten" (wie z.B. dem von mir durchaus geschätzten Ronald Galenza, der aber eben doch nur eine Stimme unter vielen ist) "nachgeplappert". Und natürlich gibt es in einem so umfangreichen Werk auch Fehler: ich darf korrigierend behaupten, dass die legendäre John-Peel-Show nie im Ostradio DT64 lief (erst 1993 besuchte Peel mal den da gerade nach Halle/S. umgezogenen DT64-Nachfolger Sputnik). Auch stilistisch ist nur sanfte Kritik vonnöten: Völkers Text ist keine "oral history", sondern die akademische Auseinandersetzung mit einem popkulturellen Phänomen, ein wenig diskursives Hintergrundwissen und Kenntnis der Fachtermini ist also alles andere als hinderlich, vielleicht sogar notwendig. Allein das regelmäßige Betonen, dass eine zitierte Quelle "sehr zu recht" dieses oder jenes behauptet, störte zumindest mein Sprach- und Stilempfinden ein klein wenig. Dass dieses auch haptisch sehr gelungene Buch aber für jeden an PopTheorie und -Historie Interessierten eine sehr bereichernde (wenn auch anstrengende und zeitaufwendige) Lektüre ist, steht hingegen außer Zweifel.
Weitere Infos: www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783111247090/html


November 2024
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