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HONEYGLAZE

Eine andere Art von Spaß

HONEYGLAZE

Um es vorwegzunehmen: ´Real Deal´ ist nicht nur der Titel des fabelhaften zweiten Albums des Londoner Trios Honeyglaze, sondern praktisch auch gleich eine Inhaltsangabe. Für ihre neuen Songs jonglieren Sängerin und Gitarristin Anouska Sokolow, Bassist Tim Curtis und Schlagzeuger Yuri Shibuichi so souverän mit ungemein eklektischen (und oft wenig offensichtlichen) Versatzstücken, bis diese oft simpel anmutenden und doch herrlich komplexen Lieder eine ganz eigene, unverkennbare Handschrift haben.

Die hymnischen Reaktionen von Fans und Presse auf das neue Honeyglaze-Album kommen nicht von ungefähr, denn auf den Schultern ihres beeindruckenden, selbstbetitelten 2022er-Debütalbums gelangt die Band auf ´Real Deal´ zu mitreißend kratzbürstigen Songs, die spürbar reifer und tiefgründiger sind als zuvor, das Publikum vom ersten Ton an mit explosiver Live-im-Studio-Wucht fesseln und dabei eindrucksvoll unterstreichen, dass die Schublade "Post-Punk" längst viel zu eng für das junge Trio geworden ist. Dass Honeyglaze so einen großen Satz nach vorn machen, hat viel damit zu tun, dass die Band für die drei inzwischen mehr als nur ein Zeitvertreib ist. "Unsere erste Platte kam sozusagen aus dem Nichts", gesteht Anouska im WESTZEIT-Interview. "Wir haben uns damals noch nicht wirklich ernst genommen. Ich glaube, das war mehr ein Experimentieren und Schauen, was passiert. Dieses Mal war alles viel besser vorbereitet. Zuvor waren wir alle viel jünger und noch an der Uni, aber nach dem ersten Album haben wir uns gesagt: OK, lasst uns versuchen, das zum Laufen zu bringen, lasst es uns ernst nehmen und überlegen, ob daraus eine Karriere werden kann. Schauen wir mal, was dabei herauskommt!"

Auch wenn Honeyglaze auf ´Real Deal´ nicht in diese Falle tappen: Dass die Idee, das Hobby zum Beruf zu machen, die Gefahr birgt, unter dem gestiegenen Druck und den größeren Erfahrungen den freigeistigen Spaß zu verlieren, der eine Band überhaupt erst spannend gemacht hat, ist Anouska und den Ihren bewusst. "Das ist definitiv etwas, worüber wir nachdenken", bestätigt sie. "Es war dieses Mal einfach eine andere Art, Spaß zu haben! Es macht mehr Spaß, weil wir mehr Leute hinter uns haben und ein bisschen mehr Geld zur Verfügung haben, um die Ideen, die wir umsetzen wollen, zu verwirklichen – mit Musik, Musikvideos und der ganzen Kampagne. Wir können ehrgeiziger sein und Dinge verwirklichen, zu denen wir vorher einfach nicht in der Lage gewesen wären. Es ist definitiv eine andere Denkweise, die Erwartungen sind ein bisschen höher, aber das gehört dazu. Wir wollen nie aufhören, uns zu bewegen, und es ist ein aufregendes Gefühl, dass wir jetzt noch ambitionierter sein können."

Das spiegelt auch der Aufnahmeprozess der neuen LP wider. War der Honeyglaze-Erstling von Dan Carey in seiner Speedy-Wunderground-Talentschmiede noch schnell und ungeschönt aufgenommen worden, saß dieses Mal der für seine Zusammenarbeit mit Parquet Courts, Interpol und Ash bekannte Claudius Mittendorfer am Mischpult, mit dessen Unterstützung die Band keine Mühe hatte, den Sweetspot zwischen Jazz-Freigeistigkeit, Indie-Crunch und Pop-Präzision zu treffen. Der wichtige Faktor dabei, da ist sich Anouska sicher, war mehr Zeit: "Zusammen mit Claudius (der unglaublich ist!) sind wir in ein abgelegenes Studio in den Wäldern gefahren und haben dort zwei Wochen lang wie in einem Nine-to-Five-Job gearbeitet", erinnert sie sich. "Wir konnten uns voll und ganz darauf konzentrieren und mit Sounds experimentieren und hatten die Zeit, das Album in seiner grundlegenden Form zu perfektionieren, und das hat wirklich geholfen."

Ohne auf die Ecken und Kanten zu verzichten, die schon auf dem Erstling für das gewisse Etwas gesorgt hatten, sind die neuen Songs viel präziser aufgearbeitet und glänzen deshalb mit (noch) mehr Unmittelbarkeit und Dringlichkeit als alles, was zuvor kam. "Die Demos, die wir für dieses Album gemacht haben, waren alle viel länger, es gab viel mehr verwobene Instrumentals und solche Sachen", erklärt Anouska. "Ein Anliegen bei dieser Platte war es, sie kurz und knapp zu halten. Alles sollte sehr straff sein. Wir haben über Popmusik nachgedacht und darüber, wie wir die Songs strukturieren können, damit es sich so anfühlt, als wären sie in der Popwelt oder zumindest in einer poppigeren Welt angesiedelt – aber eben in unserem Sound."

Die Songs der neuen Platte glänzen deshalb mit unglaublich intensiven, nicht selten auf Spoken-Word-Intimität heruntergebrochenen Vocalparts, die zwischen Zerbrechlichkeit und Wut alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, während krachende Haudrauf-Riffs und nuancierte Breakdowns die emotionale Achterbahnfahrt perfekt instrumentieren. "Der Text gibt normalerweise die Stimmung des Songs vor", sagt Anouska. "Das passiert ganz natürlich, wenn ich die Texte zu unseren Sessions mitbringe und wir dann daran arbeiten. Es sind die Emotionen der Texte, die normalerweise das Tun der Jungs leiten."

Auf ´Real Deal´ tauchen Honeyglaze tiefer als zuvor ab in eine Welt der Doppeldeutigkeiten und widersprüchlichen Botschaften, die schon früh zu einer Art Markenzeichen des jungen Trios geworden ist. In diesen neuen Songs gewährt uns Anouska Einblick in ihre innersten Gefühle, Sorgen und Probleme, wenn sie sich auf ihrer Suche nach Trost im unausweichlichen Chaos des Lebens über toxische Beziehungen, Coming-of-Age-Fallstricke oder Identitätsfragen auslässt. "Ich suche immer nach etwas, das meine Aufmerksamkeit erregt", sagt Anouska über die Inspiration für ihre Texte. "Jemand hat mal gesagt, dass sie keine Songs aufnehmen, sie spielen sie einfach, und wenn sie sich am nächsten Tag noch daran erinnern, dann wissen sie, dass es ein guter Song ist!" Auch wenn sie lachend gesteht, dass sie zu vergesslich sei, um ihre eigenen Ideen nicht aufzuzeichnen, ist ihr Gradmesser für Qualität doch recht ähnlich, wie sie abschließend verrät: "Wenn ich das Gefühl habe, etwas geschrieben zu haben, was ich gerne spiele und anderen Leuten zeigen möchte, dann ist das ein klares Zeichen, dass ich etwas richtig gemacht habe!"





Aktuelles Album: Real Deal (Fat Possum/Membran)


Weitere Infos: www.honeyglaze.love Foto: Kalpesh Lathigra

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