Ladies and gentlemen, Bühne frei für Amerikas neueste Rock´n´Roll-Offenbarung: Carrie Brownstein, Mary Timony, Janet Weiss und Rebecca Cole sind Wild Flag, und ihr selbstbetiteltes Debütalbum ist das Durchschlagendste, Leidenschaftlichste, ganz einfach das Beste, was seit langer, langer Zeit aus dem Dunstkreis des amerikanischen Indierock der 90er-Jahre aufgetaucht ist.
Etwas anderes hatte bei einer Band, die sich aus ehemaligen Mitgliedern von Sleater-Kinney, Helium, Quasi und The Minders zusammensetzt, natürlich auch niemand erwartet. Na ja, fast niemand, denn ausgerechnet die vier Protagonistinnen aus Portland, Oregon, und Washington, DC, waren sich anfangs unsicher und nahmen einen langen Anlauf über eine ausgiebige Probenphase und zwei US-Tourneen, bis sie sich an ihr Debüt heranwagten, wie Gitarristin und Sängerin Carrie Brownstein bei unserem Gespräch gesteht:”Als Musikfan kannst du dir prima eine Band zusammenschustern: Du nimmst Mick Jones von The Clash als Gitarristen, setzt John Bonham von Led Zeppelin ans Schlagzeug und lässt Kate Bush singen. Natürlich sind das alles tolle Musiker, aber gemeinsam wären sie vermutlich die schrecklichste Band aller Zeiten. Du kannst nicht einfach ein paar Musiker zusammentrommeln und erwarten, dass sie eine Bindung entwickeln oder etwas Interessantes zustande bringen. Wir haben uns Zeit genommen, weil wir sicher sein wollten, dass zwischen uns die Chemie stimmt und wir nicht nur vier Teile sind, die kein Ganzes ergeben. Wir wollten unbedingt verhindern, etwas abzuliefern, das weder gut noch bedeutungsvoll ist.”
Doch auch wenn die Damen mit Leib und Seele bei der Sache sind, der Spaß steht bei Wild Flag an erster Stelle. Das vor allem bei Sleater-Kinney vorhandene Sendungsbewusstsein fehlt bei der neuen Band.
”Mir ist wichtig, dass die Texte der Musik entsprechen”, sagt Carrie bestimmt. ”Bei diesem Album war es so, dass die Musik gewissermaßen die Richtung für die Texte vorgegeben hat. Die Musik ist unheimlich energisch, und es war für mich entscheidend, dass die Texte die Energie der Musik widerspiegeln. Es sollte keine Trennung zwischen Texten und Musik geben.”
Sprich: Man darf sich einbilden, dass die Band bei ´Boom´ tatsächlich explodiert und dass Carrie wie ein Gaul in der Box kurz vor dem Start mit den Hufen scharrt, wenn sie proklamiert: ´I´m a racehorse!”
Kein Wunder, denn für Carrie ist die Musik kein Zeitvertreib auf dem Weg in ein bürgerliches Berufsleben, sondern wahre Berufung, eine Lebensaufgabe.
Meine Beziehung zur Musik ist eine sehr ernste und innige”, bestätigt die 37-Jährige. ”Ich nähere mich der Musik immer mit einem gewissen Verlangen, einer Dringlichkeit, ohne geht es nicht. Als ich anfing, Musik für mich zu entdecken – vor allem Punk und Indie –, geschah das aus einer gewissen Hoffnungslosigkeit, einer Verzweiflung heraus. Natürlich ist dieses Gefühl jetzt, da ich ein bisschen älter bin, nicht mehr so vorhanden, trotzdem ist die Musik für mich immer noch sehr, sehr wichtig.”
Dennoch führt Wild Flag die vier Musikerinnen gewissermaßen zurück zu ihren Wurzeln. Standen bei ihren früheren Bands stets die eigenen Visionen an erster Stelle, lassen sie es nun zu, dass ihre Einflüsse stärker zutage treten. Live covern sie Patti Smith, The Rolling Stones und The Velvet Underground, und diese Künstler hallen auch in ihren eigenen Songs wider. Dazu gesellen sich die New-Wave-Punk-Einflüsse, an 60s-Girl-Groups erinnernde Gesangspassagen, ein wenig manischer Garagen-Rock alter Schule und ein Schuss psychedelische Abenteuerlust. Anders gesagt: Wild Flag klingen wie eine Band, die niemandem mehr etwas beweisen muss.
"Das spielt sicherlich eine Rolle", stimmt Carrie zu. ”Wir haben einfach versucht, uns daran zu erinnern, dass einige der frühen Punk- und Post-Punk-Bands – ich denke da an Wire, Television oder auch Patti Smith – ein untrügliches Gespür für Power besaßen. Sie waren auf interessante Weise schräg und energisch und hatten gleichzeitig auch einen Sinn für das Experimentelle.”
All das macht auch den Erstling von Wild Flag aus. Unnützer Ballast? Fehlanzeige!
"Wir sehen das Album in erster Linie als Dokument, deshalb musste es nicht groß ´produziert´ werden", erklärt Carrie. "Dass der Sound natürlich bleibt, war uns sehr wichtig. Wir stehen erst am Anfang und haben in der Zukunft noch genug Zeit, überproduzierte Platten zu machen!"
Aktuelles Album: Wild Flag (Wichita/PIAS/Rough Trade)
Weitere Infos: www.myspace.com/wildflag Foto: John Clark