Ob nun seine Verehrer Die Fantastischen Vier oder sein Entdecker Herbert Grönemeyer: sie alle schwärmen von ihm, seiner Musik und Poesie. Wie kommt man damit am Ende des Tages als ein junger und bodenständiger Sympath klar? Philipp Poisel weiß all das einzuschätzen. Denn die tickende Uhr und ihre Grenzerfahrungen erklären zwar nicht alles, aber so einiges.
Es gibt Menschen, die gehen mit wenig Gepäck auf Reisen. Eine Zahnbürste, ein Paar neue Socken und die geliebte Akustikgitarre, mehr braucht es für manch einen Jugendlichen oder Junggebliebenen nicht, um einen Sommer lang durch Europa zu reisen. Was daran so reizvoll ist? Die Abenteuerlust, das Rauskommen und das Gehörtwerden. Was (andere) daran so nerven kann? Das Hörenmüssen. Denn mal ehrlich: Der herumtingelnde Troubadour übertreibt es gern, wenn er sich und seine Coverversionen ungefragt der Öffentlichkeit aufdrängt. Sich übertrieben mit Kopiertem aufzudrängen, ist definitiv nicht die Masche von Philipp Poisel, wenngleich er den Ausflug mit der Gitarre auf dem Rücken ebenfalls schätzt und nicht selten braucht – aber eben für sich:„Ich mag es generell sehr gern, unterwegs zu sein; dieses Gefühl, auf dem Weg irgendwohin zu sein. Das ist vielleicht die Sehnsucht nach Einfachheit. Kein Telefon, kein Email, nur der Ruck-sack mit den wichtigsten Sachen. Da ist man näher am Moment, mehr im Moment. Aber eine Reise ist auch nur dann Urlaub für mich, wenn ich flexibel und mobil bin. Dann fühle ich mich frei. Und das würde vermutlich in einer Pauschalhotelanlage nicht der Fall sein, da würde ich mich eingesperrt fühlen. Außerdem brauche ich auch immer so eine Art meditative Grundbeschäftigung, also ich muss etwas zu tun haben und mich damit beschäftigen, wie es weitergeht.“
Ruhig und ausgeglichen erzählt Poisel von seiner Rastlosigkeit, dem Wegwollen und Heimkehren, dem hin und her gegen den Stillstand. Und das Glück eines sich durch seine Kunst finanzierenden Musikers ist es, so meint man zumindest landläufig, sich die Freiheit für Ausflüge dieser Art jederzeit nehmen zu können. Dabei umfasst das eigene Schaffen auch eine große Verantwortung, wie Poisel weiß:
„Das hatte ich davor noch nie. Vorher, im Job oder in der Schule, da habe ich mir nur selbst geschadet, wenn ich da nicht hingegangen bin. Damals konnte ich mir die Zeit einfach mal nehmen, um kompromissloser das zu machen, was ich gerade will, worauf nur ich Bock habe. Durch dieses Projekt nun bin ich ziemlich eingespannt und ich habe es seitdem auch noch nicht auf die Reihe gekriegt, mal Stopp zu sagen und wieder richtig rauszufahren. Das habe ich vor, aber in der jüngsten Vergangenheit hat eigentlich immer das eine das andere gejagt. Außer in Frankreich, dort war ich eine zeitlang mal unterwegs.“
Und diese musikalische Reise „Bis Nach Toulouse“ ist zu einem Album geworden, das mehr als das zweite Studiowerk des Musikers Poisel gehört werden sollte.
Beginnt man an der Oberfläche, fällt sofort auf, dass im Vergleich zu dem Debüt „Wo Fängt Dein Himmel An?“ nun alles bandorientierter und mehrschichtiger arrangiert ist. Der junge Singer/ Songwriter hat seinen musikalischen Kosmos erweitert und ausgeschmückt, wenngleich er natürlich in seinen eigenen poetischen vier Popwänden beheimatet bleibt. Diesmal waren es aber „nur“ zwei Jahre, in denen die neuen Songs entstehen, heranreifen und sich wieder verändern konnten, um schlussendlich für die Ewigkeit bestehen zu bleiben. Völlig neu dabei war diese bis dato Unbekannte in Poisels Leben: die Deadline.
„Die hatte ich vorher nicht. Ich habe mir diesmal sagen müssen: Okay, ich verdiene damit mein Geld und ich möchte das hier machen!“
Deshalb musste eine zweite Platte entstehen - und zwar nicht erst in zehn Jahren, wie es ihm und seiner Natur nach eigener Aussage eigentlich entgegenkommen würde, sondern alsbald, im besten und optimalen Fall nach zwei Jahren. Das ist natürlich eine völlig andere, neue Herangehensweise für Poisel-Verhältnisse gewesen. Normalerweise ist das A und O des angemessenen und zufriedenstellenden Kreativseins für ihn nämlich nur eines: Zeit zu haben.
„Ich mache eigentlich Musik in Momenten, in denen ich mich dazu fühle. Ich bin keiner, der den Bleistift spitzt und sagt, jetzt mach ich mal was. Es gibt Songs, die entstehen schnell. Aber von einer Idee bis zum fertigen Song ist alles ein Prozess, so wie auch die Anzahl von Stücken auf einem Album, die sich am Ende dann eben einfach ergibt, ein Prozess der Zeit ist. Es gibt meiner Meinung nach so etwas wie eine natürliche Vollendung, auch wenn sich das jetzt vielleicht blöd anhört. Diesmal war alles künstlicher, weil es in einem Zeitrahmen stattfinden musste. Das war für mich ein erheblicher Unterscheid und ich habe auch etwas damit zu kämpfen gehabt, mit dem Druck, der Zeit und damit, all das in diesem abgesteckten Rahmen fertig zu machen. Aber komischerweise ist es so, dass, wenn man diesem Umstand nicht mehr so viel Wert beimisst, geht man viel freier an die Sache ran.“
Man merkt es ihm unzweideutig an, wie ihm die Zeit das Leben schwergemacht hat und ihn zeitweise resignieren ließ, ja wie er für sich Strategien gegen den Druck der tickenden Uhr ausbaldowerte. Denn er ist kein Handwerker, der innerhalb eines Zeitrahmens ackert und abliefert, sondern eher ein Momentaufnehmer, der auf die Gunst seiner Stunde angewiesen ist, wann auch immer diese schlagen wird. Sein Mittel gegen den Druck war schlussendlich so radikal wie einfach: Er nahm die Zeit fortan nicht mehr ernst.
Nicht unschuldig an diesem befreienden Ansatz waren gewiss auch Poisels persönliche Lebensumstände. Denn das, was – mit Verlaub – zunächst wie eine schlechte Promogeschichte klingt, ist bitterer Ernst: Im Frühjahr 2009 wurde dem damals 25-Jährigen ein Tumor diagnostiziert, Verdacht auf Krebs. Drei Tage Angst folgten, in denen nicht sicher war, ob der Tumor ein Schweinehund oder ein Blindgänger ist. Und auch wenn er glücklicherweise als ein gutartiger attestiert wurde, so waren die drei Tage der Ungewissheit zuvor sicher die schwierigsten, die Poisel bis dato durchlebte. Was geht einem da durch den Kopf? Was nimmt man aus solch einer Grenzerfahrung mit? Was verändert sich danach?
„Man rechnet mit dem Schlimmsten, um gewappnet zu sein. Deshalb habe ich mich damit auseinandergesetzt, dass ich möglicherweise nicht mehr lange zu leben habe. Dann geht es von so einer souveränen Akzeptanz bis hin zu immensen Verlassensängsten. Angst, dass man da, wo man hingeht, allein hingehen muss. Da gab es Momente, in denen ich völlig resigniert habe. Aber wiederum gab es dann auch ganz wertvolle Momente, in denen ich mir gesagt habe. Mann, ich kann mich anfassen, ich bin noch da und ich sitze gerade in der Sonne, neben meinen Kumpels auf der Bank vor der Klinik! Ein Gefühl, dass ich seitdem heute auch öfter habe: den Moment als etwas Großartiges zu genießen.“
In den Zeilen zu „Froh Dabei Zu Sein“ lässt sich klar und deutlich dieses Gefühl um das Erlebte nachempfinden. Seine Sichtweise auf bestimmte Dinge hat sich verändert – ungeachtet dessen, dass seine Worte die eines Beobachters bleiben, der angreifbar fragt und verwundet zweifelt, der melancholisch erkennt und lakonisch weiterspinnt. Und so finden seine Texte oftmals wie von allein ihren Platz und ihre Bestimmung:
„Ich finde es wichtig, dass sie etwas Unmittelbares, Direktes haben. Dass sie einfach auch mal rausfallen, mal unlogisch und auch gar nicht poetisch sind. Manchmal sind Texte, an denen man herumüberlegt, poetischer und schöner, als wenn sie so passieren – aber trotzdem sind für mich die direkten Texte doch meist die besseren, weil sie so ungeprüft sind. Sie sind so, wie sie kommen. Natürlich hat nicht alles, was aus einem so hochkommt, die Qualität, einen Song daraus zu machen. Aber dieses Unmittelbare, das ist zumindest mein Anspruch, das sollte man sich bewahren.“
Und mit dieser Unmittelbarkeit einerseits, aber auch dem Abstand zur Zeit andererseits, gewinnt man neue Perspektiven und Erkenntnisse. Mit jedem Schritt vor und Blick zurück, kann man Dinge neu interpretieren, so dass Zeilen und Musik für Poisel eine Frage des Heranreifens sind.
„Da stecken zwei Sachen drin: Einmal, dass man etwas ohne viel darüber nachzudenken und stark aus dem Gefühl heraus macht. Und im nächsten Schritt wird man Zuhörer seiner eigenen Sache und erfährt so etwas über sich selbst. Das ist wie mit einem Tagebuch, in das man immer reinschreibt, wie es einem geht. Irgendwann werden einem bestimmte Zusammenhänge erst im Nachhinein klar.“
Es ist und bleibt eben alles (k)eine Frage der Zeit. Ganz, wie man es hören will.
Aktuelles Album: Bis nach Toulouse (Groenland / GTG /RTD) VÖ: 27.08.2010
Foto: Lina Scheynius