Wenn man nicht wüsste, wer er ist, könnte man hinter seiner Redselig- und Höflichkeit einen alten Stasi-Hasen vermuten. Denn selbst Interviewtage nutzt er, um neue Informationen und neues Material für seine Unterlagen zusammenzusammeln. Karl Hyde, einer der kreativen Köpfe aus der Welt von Underworld, gehört zu den unscheinbaren Personen im Hamburger Hyatt-Hotel. Er wirkt eher wie die Menschen draußen, die er täglich beobachtet und aufsaugt. Schritt für Schritt verfolgt er sie, zieht sich seinen Input für eine Art von Musik, die sich mittlerweile einer Kunstform genähert hat. Auf dem aktuellen Album „Oblivion With Bells“ gehen Underworld ihre Fusion aus Offenheit und Bewegung weiter und schicken sich damit selbst auf eine Reise, die John Peel sicher sehr gefallen hätte. Es ist gibt eben weitaus mehr als „Lager, Lager, Lager!“ zu entdecken.
Er geht raus, beobachtet Menschen, hört ihnen zu, schaut sich um, verfolgt sie und verläuft sich in den individuellen Geschichten der Vorbeigehenden. All dies hält er fein säuberlich in einem kleinen Skizzenbuch fest. Bevor Karl Hyde am Interviewtisch Platz genommen hat, zitiert er bereits ungefragt drauflos. Er liest die Assoziationen und imaginären Fetzen vor, die er bei seinem heutigen Inspirations-Spaziergang durch Hamburg-City aufgesogen hat. Sie regen ihn sichtlich an, diese Situation da draußen, diese Menschen in ihrem Innern und alles, was er beiläufig noch aufschnappt:„Ich lausche den Leuten, beobachte sie oder gucke in der Gegend herum. Alles, was mich berührt und in irgendeiner Form inspiriert, schreibe ich auf.“
Dieses Schnüffeln nach Denkanstößen und Kreativitätsschüben betreibt der unscheinbare Agent nun schon seit rund 18 Jahren, so dass eine beachtliche Sammlung an Notizbüchern seine Regale zuhause füllt. Sucht er nach den richtigen Worten für einen Text, greift er einen dieser Sammelbände heraus und blättert darin herum, liest quer und zieht sich dies oder jenes heraus – ganz wie es die Atmosphäre eines Songs ihm leise flüstert. So bewegt und schnüffelt Karl Hyde in diesem kreativen Kreis namens Underworld.
Der Name ist natürlich schon etwas belastet. Er ist besetzt durch dieses chemisch aufgedrehte „Lager, Lager, Lager“-Gestampfe aus Danny Boyles Film „Trainspotting“, mit dem der große Erfolg und die internationale Popularität Underworlds Mitte der Neunziger begann. Aber was war eigentlich vor „Born Slippy“? Karl Hyde und Rick Smith, der ewige Kern von Underworld, hatten bereits Anfang der Achtziger begonnen, gemeinsam Musik zu machen. Mit drei Kumpanen gründeten sie die Band Freur, lösten diese aber nach zwei Alben und mittelmäßigen Erfolgserlebnissen 1985 wieder auf. Drei Jahre später gründeten sie Underworld, was zunächst aber auch nicht viel erfolgversprechender anlief. Die ersten beiden Alben Ende der Achtziger liefen nur mäßig, so dass sich Hyde und Smith nebenbei in der Grafikdesign- und Werbeagentur „Tomato“ austobten, die äußerst erfolgreich extraordinäre Werbespots für internationale Großkonzerne produzierte. Mit DJ Darren Emerson als musikalische Kreativerweiterung folgten dann wieder erste Releases unter dem Namen Lemon Interrupt, bevor sie zum alten Bandnamen Underworld zurückkehrten und für das 93er-Album „Dubnobasswithmyheadman“ erstmals mehr als nur beiläufige Beachtung erhielten. Für alles Weitere sorgte die besagte Erfolgssingle „Born Slippy“, die überall rotierte und allen Nachfolgeveröffentlichungen stattliche Verkaufszahlen bescherte. Während viele, die damals „Trainspotting“ sahen und mochten, sich an diesem hyperventilierenden Discogeboller schlicht überhört haben, ergeht es da dem Erzeuger selbst erstaunlicherweise noch etwas anders:
„Ja, ich kann mir den Song auch heute noch anhören. Ich mag ihn noch immer sehr, weil er so euphorisch und optimistisch ist. Aber natürlich war das damals auch eine komplett andere Zeit.”
Das war sie, genauso wie die Musik. Denn was sich von seinen Rockanfängen mehr und mehr entfernte und dann auf dem Dancefloor abspielte, entwickelte sich nun über die Jahre hinweg auch immer weiter weg von diesem Ort. Underworld fusionierten schrittweise das, was sie mit der Zeit in sich aufgesogen hatten.
Hinter Underworld steckt deshalb auch weitaus mehr als diese Erfolgsgeschichte. Sein kreativer Kreis ist mittlerweile ein weites Feld zwischen Musik und Kunst. Ähnlich wie ein Maler, der seine ersten Punkte wahllos und intuitiv auf die weiße Leinwand kleckst, arbeiten Underworld an ihrer Art von Musik. Von diesen Flecken aus ziehen sie ihre ersten Kreise, verbinden diese zu Formen und füllen ihre neuen Flächen aus.
„Wir gehen da immer auf eine weite Reise, bei der niemand von uns weiß, wo es uns hinführen wird. Du machst deine Marker und Stationen irgendwo fest und lässt dich dann zwischen und von ihnen treiben. Dann führt es dich zu neuen Punkten, die dich wiederum an einen anderen, neuen Ort bringen oder dir die Inspiration geben, um auf eine ganz bestimmte Art zu bleiben oder vielleicht doch besser wieder in eine andere Richtung aufzubrechen. Das ist ein spannender Prozess!“
Aber auch ein zeitintensiver, denn aus diesen grundverschiedenen Verläufen ein ansehnliches Mosaik zusammenzusetzen, kann dauern. Und das tat es auch: Karl und Rick tauschten regelmäßig ihre Powerbooks untereinander aus, so dass jeder Einzelne mit den unfertigen Ideen des Anderen konfrontiert wurde und so das Patchwork sukzessive Richtung open end weiterknüpfen konnte. Zudem haben sie einen großen Teil ihrer Liveshows der letzten Zeit auf Video aufgenommen, um auch zu sehen, was davon rein visuell betrachtet wirkt. Von dort aus sollte es weiter, vorwärts oder auch zurück gehen - Hauptsache, es bewegte sich und etwas.
So lagerten sie plötzlich über hundert Ideen, die herumwuselten und ihren Platz zunächst noch im Nirgendwo hatten. Darin wollten sie nun schnüffeln, um zu kleben. Sie schnippelten heraus, setzten neu zusammen und formten eine Art Kollektion dessen, was sich besonders für sie anfühlte. Die Auswahlkriterien dafür aber waren stark geprägt durch den Weg, den Underworld von „A Houndred Days Off“, dem vermeintlich letzten Album von 2002, zum aktuellen Album „Oblivion With Bells“ gingen. Das vermeintlich letzte Album deshalb, weil in den letzten fünf Jahren so unüberschaubar viel in der Unterwelt passierte: Das bloße temporäre Ausbrechen aus dem standardisierten Releasezyklus, drei Downloadalben, die Japan-Tripple-Live-Veröffentlichung, zwei Soundtracks, fünf 12inches und nicht zuletzt die Radio- und Fernsehshows im Netz.
„Was neben diesen Dingen aber vermutlich noch ausschlaggebender war, ist unsere Liebe zum deutschen Club-Sound. Er hat uns überwältigt und dementsprechend auch sehr geprägt. Dass wir zum Beispiel Sven Väth erlebt und kennengelernt haben, war sehr entscheidend.“
Ingesamt eine spannende Reihe an Beeinflussungen, die sich nun auf „Oblivion With Bells“ entladen hat und eine Art Fusion aus Herausgeschnüffeltem ist. Man hört den Dance, den Dub, die Filme, die Electronic, den Indie, das Orchestrale, die Welt, die Menschen, die Bilder und die Worte. Jede Art dieser Beobachtungen, Erlebnisse und Aufschnappungen setzen etwas in Bewegung, in welcher Form auch immer.
„Und genau das, was dich innerhalb all dieser so grundverschiedenen Richtungen einspannt, mitreißt und mitfühlen lässt, ist im Kern das, was wir in Underworld vermengen wollen.“
Eine Fusion also, wie John Peel sie sicher gutgeheißen hätte. Jemand, der für das Verbinden musikalischer Differenzen stand, genrespezifische Grenzen überbrückte und nahezu täglich schnüffelte, spionierte und aufschnappte.
„Mit ihm ist einer der größten Musikfans aller Zeiten gestorben. Seine Stimme hat ganz viel in dieser Welt zusammengebracht. Ohne John hätte ich niemals Kraftwerk gehört, hätte dem Dub oder Reggae niemals ein Ohr geschenkt und vermutlich niemals den Punk als Spirit gespürt.”
Aber Peel war noch mehr als Karls persönlicher Augen- und Ohrenöffner, denn es gab im Vorfeld von „Oblivion With Bells“ bereits einen großen Plan. Der Plan war, dass er nach seinem Urlaub mitentscheidet, wo in diesem weiten Feld von Underworld Momente aufgespürt und aufgeschnappt werden können, die in ihrer Zusammensetzung etwas malen und bewegen.
„Leider kam er nie wieder aus diesem Urlaub zurück. Aber er hat uns eines hinterlassen: Das Wissen, dass es täglich Neues zu entdecken gibt - auch in der Musik.”
Aktuelles Album: Oblivion With Bells (PIAS)
Foto: Perou.co.uk