Sie sind ein Phänomen: The 1975 stehen für einen ebenso abenteuerlichen wie erfolgreichen musikalischen Hybrid. Zudem gilt das Quartett aus Manchester als Sprachrohr der Generation Playlist und gibt sich betont politisch. Mit ihrem vierten Werk „Notes On A Conditional Form“ legen die Thirtysomethings ein Werk ein Werk vor, das so vielseitig klingt als stamme es von vier bis fünf unterschiedlichen Bands - mindestens. Eben ein Oeuvre, das genauso mutig wie überambitioniert wirkt, fast zwei Jahre in Arbeit war, größtenteils während der letzten Welttour entstanden ist und immer wieder aktualisiert bzw. verschoben wurde.
Das Ergebnis ist monumental: 22 Stücke mit einer Spielzeit von über 80 Minuten, die dem Ansatz des legendären „White Album“ der Beatles oder auch „Quadrophenia“ von The Who folgen: Vollkommen unberechenbar zu sein, den Hörer nachhaltig zu fordern und ein Spiegelbild unserer Zeit abzuliefern. Also nicht einfach nur Musik zu machen, sondern sozio-politische Klangkunst. Oder wie es Sänger und Hauptsongwriter Matthew Healy formuliert:„Dieses Album erinnert mich an den Filmklassiker ´Die Reifeprüfung´, wo die Kamera diesem Pärchen folgt, das am Ende durchbrennt. Man fragt sich: „Wohin wollen sie? Haben sie genug Geld? Haben sie überhaupt Klamotten zum Wechseln dabei?“ Da findet quasi eine cineastische Dekonstruktion statt und man denkt: ´Das ist unmöglich das wahre Leben.´ Im Ernst: Es ist einer der wenigen Filme, bei denen der Zuschauer zum Schluss das cineastische Erlebnis überwindet und sich der Realität erinnert. Unser Album ist im Grunde ähnlich: Auch da wird nichts mit Schleifchen verpackt, sondern es geht um das Echte und Wahre.“
Sturm auf Washington
Das Echte und Wahre schlägt sich bei dem Sohn des Kultschauspielers Tim Healy in autobiographischen Texten nieder, die von Einsamkeit, Entbehrung und Frust handeln. Von den Kehrseiten des glamourösen Musiker-Daseins, wie etwa gescheiterten Beziehungen und Schlafstörungen. Aber auch vom Ärger über den Brexit, Mattys Engagement für Fridays For Future und seiner wachsenden Abneigung gegenüber den USA. Der Trump-Regierung wirft er Homophobie und Rassismus vor – und ruft zum Sturm auf Washington, zur Revolution mit Waffengewalt auf. Was die Frage aufwirft, ob The 1975 je wieder ein Arbeitsvisum für Nordamerika erhalten werden.
„Da bin ich mir nicht sicher“, lacht der 31-Jährige. „Ich halte dem Land oft den Spiegel vors Gesicht, weil ich dort in den letzten zehn Jahren so viel Zeit verbracht habe. Der Song ´Jesus Christ 2005 God Bless America´ besteht zum Beispiel aus zwei Stücken, beide über die religiöse Unterdrückung von jungen Menschen und das mentale Gefängnis, in dem sie dort leben. Ich habe einfach die sogenannte Brion-Gysin-Technik angewandt und einen Titel daraus gemacht.“
Kreativer Torso
Genauso mutig wie die Texte, ist auch die Musik auf „Notes On A Conditional Form“ – ein Grenzgang zwischen R&B, Pop, Indie-Rock und Ambient. Mal mit programmierten Beats und angesagten Vokaleffekten. Dann wieder mit großem Orchester, brachialen Gitarren-Salven oder Referenzen an den Pop der 80er – an Tears For Fears bzw. Ultravox. Sprich: Ein kunterbunter Torso – von einer Band, die entweder hochgradig schizophren ist oder sich schlichtweg nicht festlegen will. Doch weit gefehlt:
„Ich würde mich schuldig fühlen, wenn ich Musik machen würde, die zu leicht zu konsumieren wäre. Also die nichts anderes als Fastfood darstellt. Und ich komme mir missverstanden vor, wenn Leute meinen, unsere Songs wären oberflächlicher Pop. Denn das Gegenteil ist der Fall: Wir bemühen uns, richtig schöne Musik zu machen. Denn Schönheit ist das schärfste Werkzeug, das es gibt. Nur sie sorgt dafür, dass sich die Leute hinsetzen und zuhören. Wenn du also Ideen hast, die du vermitteln willst, musst du sie lediglich nett verpacken.“
Ein Ansatz, der zugleich den Erfolg von The 1975 erklärt. Als eine der wenigen Rockbands der Gegenwart verkauft das Quartett aus dem Norden Englands nach wie vor Millionen von physischen Tonträgern, stürmt die Charts auf beiden Seiten des Atlantiks und zeigt, dass man sich als Künstler einfach nur Mühe geben muss, seinen eigenen Weg und Sound zu finden. Das ist The 1975 gelungen – und davon zeigt sich selbst Altmeister Brian Eno beeindruckt.
„Er meinte zu mir: ´Love It If We Made It´ wäre der letzte Song der vergangenen 20 Jahren gewesen, der ihn eifersüchtig gemacht hätte. Und er würde sich wünschen, dass er etwas ähnliches schreiben könnte“, lacht Healy. „Für mich das größte Kompliment aller Zeiten.“
Ein musikalischer Ritterschlag. Und wer weiß: Vielleicht betreut der Roxy Music-Altmeister ja schon das nächste Album von The 1975. Die befinden sich aktuell an einem ähnlichen Punkt ihrer Karriere, wie vor ihnen schon U2, Coldplay oder Bowie – nämlich an der Schwelle zu Stadion-Konzerten und Superstardom. Mal sehen, was sie daraus machen.
Aktuelles Album: „Notes On A Conditional Form“ (Polydor / Universal)
Foto: Mara Palena