Niemand ist frei. Zumindest nicht frei von Gebundenheit. Zuerst denkt man vermutlich an die Liebesbeziehung. Doch bevor man die überhaupt eingehen kann, hat man schon längst andere Bande hinter sich, etwa die der Familie. Das beschäftigt Deniz Jaspersen, seines Zeichens Sänger und Gitarrist der Hamburger Teilzeitrocker Herrenmagazin. Daraus werden zunächst Textfetzen, danach Liedtexte und schließlich fertige Stücke. „Aber keine Angst“, sagt Deniz Jaspersen, „wir haben mit ‚Sippenhaft’ kein echtes Konzeptalbum gemacht, aber einen roten Faden gibt es schon.“ Eine kleine Anmerkung muss noch sein, ist eine Bandkonstellation nicht schon wieder ein Beziehungsgeflecht?
Lebensentwürfe unter BeobachtungDie Familie spannt ein Netz über all’ ihre Mitglieder, beobachtet deren Wege, deren Handlungen und Äußerungen. Und bewertet. „Dieses Bewerten, dass habe ich gerade als Musiker immer wieder gespürt“, erklärt der Herrenmagzin-Frontmann, „das ist ein Lebensentwurf, der als brotlos angesehen wird und für den eine permanente Rechtfertigung verlangt wird. Und was bedeutet das für einen Künstler? Die Kreativität fährt mit angezogener Handbremse, weil ein Teil der Energie eben für Rechtfertigungen drauf geht. Das ist umso schlimmer, wenn man so extrem konfliktscheu und harmoniesüchtig ist, wie ich es bin.“
Diese Überlegung schlägt sich im Stück ´Halbes Herz´ in der wunderbaren Textzeile nieder „Doch bei einem halben Herzen / Kommt nie der ganze Mut zusammen.“ Das Regelwerk sozialer Geflechte ist einfach immer und überall. Gibt es ein Entkommen?
„Nein! Es doch völlig egal, ob du Kind, Eltern, Arbeiter oder auch Rockstar bist – überall stößt du auf vorgefertigte Vorstellungen, wie etwas oder wie jemand zu sein hat“, fährt er fort, „und so kann ich den Normen nie entfliehen und deshalb muss ich es auch in unserer Musik thematisieren. Immer und immer wieder.“
Da kann man Herrenmagazin nur wünschen, dass das Abarbeiten an sich selbst mal erledigt ist, dass sie sich Geschichten der Fantasie zuwenden können. Selbst wenn diese nur halb so grandios wären, wie etwa die melancholiegetränkten Lieder auf ´Sippenhaft´, wäre dieser Perspektivwechsel immer noch ganz großes Kino. „Aber auch in der Beobachterrolle wird man sich selber ja trotzdem nicht los“, gibt Deniz Jaspersen zu bedenken.
Keine Wahrheiten nirgends
Dieser angesprochene Perspektivwechsel deutet sich im Stück ´Gärten´ schon an.
„In diesem Stück geht darum, zu erkennen, dass die Welt immer größer ist, als man zunächst denkt“, weiß Deniz Jaspersen, „und zwar so viel größer, das es nirgendwo Wahrheiten gibt, sondern immer nur Fitzel der Wahrheit.“
Und deshalb heißt es im genannten Stück so schön, „es gibt nicht die eine Antwort/die es einfach werden lässt.“ Damit die Stücke diese wunderbare Wärme ausstrahlen, die sie ausstrahlen, muss es besonderes Studio her. Das Tonstudio Bremen Nord. Ein vom damaligen Schlagerstar Ronny (bürgerlich Wolfgang Roloff) eingerichtetes Studio, dessen erste Ausstattung, es in den 1950ern bereits ermöglicht, große Ensembles aufzunehmen, noch vollständig erhalten ist. Auch ist die Sammlung alter Mikrofone eine der umfangreichsten Deutschlands und das Röhrenmischpult ein Unikat.
„Dort riecht es nach Cognac und Kippen, Rudi Carrell geistert dort rum, ‚Wann wird’s mal wieder richtig Sommer’ wurde dort aufgenommen“, beschreibt Deniz Jaspersen die Studioumgebung, „aber die Ausrüstung ist einfach phänomenal und die alten Aufnahmegeräte transportieren einfach Wärme in deine Stücke, du kannst gar nichts dagegen tun. Aber das wollten wir ja auch gar nicht.“
Die Lieder werden vom Frontmann weitgehend vorskizziert, der Text kommt ausschließlich von ihm.
„Doch durch die Tatsache, das die musikalischen der einzelnen Bandmitglieder unterschiedlicher nicht sein können, ist die klangliche Endfassung der Stücke fast nie kalkulierbar“, merkt der Sänger an, „aber das genau macht doch den Reiz von Musik aus. Und deren Fortschritt. Es gibt ja nichts Schlimmeres, als Bands, die in ihrem Leben nur eine Platte gemacht haben und sich seitdem nur noch selbst zitieren.“
Doch davor muss Herrenmagazin nicht wirklich bange sein; denn solange sie so zauberhafte Pianoperlen mit leicht krachenden Gitarren zu großartigen, stets neu geformten Klanglandschaften montieren, werden sie der Gefahr des Selbstzitats nicht erliegen.
Aktuelles Album: Sippenhaft (Grand Hotel Van Cleef / Indigo)