Eigentlich war ja bereits das letzte Reeperbahn Festival als post-pandemische Rückkehr zur Normalität gefeiert worden – freilich fehlte damals noch so einiges, was zuvor das Ereignis ausgezeichnet hatte – insbesondere mit Bezug auf eine internationale Beteiligung aus Übersee. Deswegen war es umso erfreulicher, dass es in diesem Jahr dann wieder deutlich mehr Akzente in dieser Richtung gab. So waren die Länder-Showcases wieder prominenter vertreten. Insbesondere die Rückkehr der australischen Fraktion, die koreanischen Spotlight-Konzerte auf dem Spielbudenplatz, die zur Institution gewordenen Schweizer Showcases und die beeindruckende Anzahl Kanadischer Acts – die nicht nur wie gewohnt im Canada House, sondern auch im Club-Programm eine gewichtige Rolle spielten – sorgten für viel Kurzweil im Show-Angebot. Insgesamt zählten die Festival-Macher in diesem Jahr 457 Konzerte von Künstlern aus 40 Ländern. Das stellte dann nochmal eine Steigerung im Angebot zu den Prä-Pandemie-Zeiten dar. Das bedingte dann logischerweise auch eine Ausweitung alter und neuer Spielstätten. So waren in diesem Jahr früher regelmäßig bespielte Venues wie die große Freiheit oder die Prinzenbar wieder mit im Angebot und neu hinzugekommene Clubs bzw. Bars wie das Chikago oder das Drafthouse sorgten für eine weitere Entzerrung der Publikumsströme. Auch die Möglichkeiten, sich ohne Festivalticket einen Überblick zu verschaffen, waren durch den freien Zugang zu den Open-Air-Spielstätten auf dem Heiligengeist-Feld (sowie natürlich jener auf dem Spielbudenplatz) wieder gegeben. Die Veranstaltungen des in diesem Jahr zum ersten Mal gastierenden re:publica Festivals für die digitale Gesellschaft auf dem Heiligengeist-Feld waren dann allerdings wieder nur mit Festival-Ticket zugänglich. Gelegentliche Schnittpunkte zwischen dem Rahmen- und Musikprogramm – wie z.B. eine spontan angesetzte Poster-Signing und Akustik-Show der Blood Red Shoes bei der Flatstock Poster Show am Festival-Samstag - gab es dann auch, aber bis auf die Award-Shows blieben die Musik-Showcases und die Diskussions-, Podcast-, Radio-, Vortrags-, Ausstellungs- und Workshop-Veranstaltungen dann doch getrennt.
oben: Cotoba / Damona, mitte: Hot Wax / Paris Paloma, unten: Spill Tap / VijiDie Anchor-Shows fanden dieses Mal nicht mehr im Nochtspeicher und Imperial-Theater statt, sondern im größeren Grünspan – der Spielstätte mit dem traditionell größten Andrang an Besuchern und dementsprechend längsten Warteschlangen; so dass potentiell mehr Fans die Möglichkeit hatten, die Next Big Things in Sachen Live-Musik anzuchecken. Dass der Preis für die beste Live-Performance in diesem Jahr an die avantgardistische, japanische Folk-Künstlerin Ichiko Aoba ging (also der Künstlerin, die den geringsten performerischen Aufwand aller Nominierten betrieb) zeugte übrigens davon, dass sich die wie gewohnt von Tony Visconti geleitete, aus Katie Melua, Banks, Tayla Parx bestehende Fachjury einerseits nicht von Show-Effekten beeindrucken ließ, anderseits aber offensichtlich ganz andere Prioritäten hatte, als das zuletzt der Fall gewesen war.
Es waren dann weniger die High-Profile-Shows von Acts wie Arlo Parks bei der Eröffnungs-Show, den Pretenders, den Blood Red Shoes oder Billy Bragg und die Veranstaltungen in der Elbphilharmonie, bei denen sich die interessantesten Entdeckungen in Sachen Live-Musik zu machen ließen, denn diese gab es nach wie vor in den Clubs zu entdecken. Dabei stand eine Entwicklung ganz eindeutig im Vordergrund – denn in diesem Jahr hatten ganz eindeutig die Frauen das Heft des Handelns in der Hand und machten mit einer ganzen Reihe relevanter Shows deutlich, dass die Zeiten, in denen vier Jungs in Lederjacken die Rockmusik nach belieben dominieren konnten, endgültig vorbei sind. Bereits in den vergangenen Jahren hatte sich diese Entwicklung im Rahmen des Keychange-Programmes bereits angedeutet, aber in diesem Jahr machten Acts wie Blush Always, Brockhoff, Lyschko, Thala oder Damona aus unseren Breiten, Annie Hamilton aus Australien, Viji oder HotWax aus dem UK, Cotebo aus Korea oder Spill Tab aus den USA auf eindrucksvolle Weise deutlich, dass man mit guten Songs im Gepäck und einer Gitarre in der Hand in Sachen Rockmusik auch etwas anderes machen kann, als ins Mikro zu brüllen und Schweinerock-Soli rauszuhauen. Aber auch in Sachen Songwriting und Pop legten Acts wie Featurette aus Kanada, Mina Richman aus Deutschland, Kids With Buns aus Belgien, Skaar und Ellison aus Norwegen, Girl Scout aus Schweden, Sofie Royer und Sophia Blenda aus Österreich, Susan O’Neill oder Ailbhe Reddy aus Irland, Veronica Fusaro aus der Schweiz, Paloma Paris aus London, Soft Loft aus der Schweiz, Someone aus den Niederlanden oder Maple Glider und Gena Rose Bruce aus Australien nahe, dass die Zukunft der Live-Musik eher weiblich zu sein scheint. Nicht immer aber auch mit Flinta-Background auf jeden Fall aber mit viel Selbstvertrauen. Logischerweise handelt es sich hier nicht um eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme – aber die schiere Masse an erstklassigen Acts ließ doch erkennen, wohin die Tendenz geht – offensichtlich dann sogar weltweit.
Aus einem solch hochqualitativen Angebot sich aufdrängende Highlights halbwegs seriös herauszupicken, ist fairerweise kaum möglich – gehen wir deswegen stattdessen mal auf echte Überraschungen und Entdeckungen ein.
Mit gerade mal 17 Lenzen stürzte sich die bayrische Künstlerin Anja „Damona“ Seelos via TikTok in eine Karriere als Recording Artist, die 2022 zur Veröffentlichung ihrer ersten EP „Chaos“ führte. Das Interessante dabei ist dann allerdings der Umstand, dass sie sich „alte Musik – wie The Clash oder AC DC“ - wie sie das selbst nennt – als Inspirationsquelle ausgesucht hat und die Ehre hatte, das Musik-Programm des Reeperbahn-Festivals mit einem akustischen Set auf dem NJoy Bus und einem elektrischen auf der XXL-Bühne zu eröffnen. Dabei zeigte sie mit ihrer ebenfalls jugendlichen Band, dass sich zeitgemäße Pop-Affinitäten und klassisch strukturierte Rocksongs keineswegs ausschließen. Nicht alle ihre Songs sind dabei so hart geraten wie ihre Single „Skeleton“ aber dafür sind auch die poppigeren Tracks wie „Girl Across The Street“ nicht so belanglos softgespült wie vieles, was sich im aktuellen Pop-Zirkus oft so offenbart.
Ihren ersten relevanten Auftritt in unseren Breiten absolvierte die in L.A. ansässige, französisch-koreanische Songwriterin Claire „Spill Tab“ Chicha bei ihrem Showcase in der Chikago-Bar. Es gab dann einen wilden Mix aus R’n’B-Pop mit Hip Hop Appeal, Weird-Folk, Club-Passagen und immer wieder eingestreuten Indie-Rock-Songs – oft mit Grunge Faktor und psychedelischen Jam-Sessions. Dabei zeigte Claire dezidierte Rampensau-Qualitäten, die darauf schließen lassen, dass sie ihre Laufbahn als Rising Star der kalifornischen Indie-Rock-Szene nicht erst gestern angegangen ist.
Das koreanische Math-Rock-Quartett cotoba lebt ganz ohne Frage von den ungestümen Energieausbrüchen seiner quirligen, hyperaktiven Frontfrau DyoN Joo, die zwar in Deutschland geboren ist, aber nie hier gelebt hat und deswegen ergo auch kein Deutsch spricht. Viel Raum für Finesse bleibt nicht in der Musik von cotoba, aber die stadienreifen Rock-Posen DyoN Joo’s und die unerbittlichen Gitarrenduelle, die sie sich mit dem auch als Produzenten agierenden Gitarristen Dafne liefert, sorgen für jede Menge Rock-Power. Die Tatsache, dass sich die Band nach dem japanischen Wort „kotoba“ (= „Wort“ bzw. „Sprache“) benannte, ist musikalisch nur insofern nachzuvollziehen, als dass sich cotoba – die Band – am japanischen Metal-Sound orientiert, diesen aber dann doch konsequent im Post- und Math-Umfeld implementiert.
Die in London ansässige österreichisch-brasilianischen Musikerin Vanilla Jenner hatte das Debüt-Album ihres Bandprojektes VIJI noch gar nicht veröffentlicht, als es in der Molotow Sky Bar daran ging, das Next Big Thing in Sachen Grunge-Rock aus dem UK zu präsentieren. Wird auf dem von Dan Carey für dessen Kult-Label Speedy Wonderground produzierten Album „So Vanilla“ viel mit produktionstechnischen Effekten, Elektronika und New Wave Sounds gearbeitet, so gab es in der – wie üblich saunamäßig aufgeheizten - Sky Bar nur die reinrassigem volle Dröhnung in Sachen Rock. Da wurden den Zuhörern die grungigen Power-Chords nur so um die Ohren gehauen und Vanilla empfahl sich mit der notwendigen Portion überdrehten Wahnsinns performerisch als potentielle neue Rock-Queen du jour. Wohl denen, die diese Show haben miterleben können, denn das wird so schnell in einem solch intimen Rahmen kaum mehr möglich sein.
An der Songwriter-Front verschafft sich seit einiger Zeit die aus Derbyshire stammende Folk-Künstlerin Paris Paloma mit ihren feministischen Empowerment-Hymnen Gehör und erweist sich bereits jetzt als neue Leitfigur der Szene, die ihren (weiblichen) Fans mit ihren aktuellen Singles „Labour“, „As Good A Reason“ und zuletzt „Drywall“ auf lyrisch/poetische Weise intelligent formulierte, interessante Denkanstöße für den täglichen Kampf um weibliches Selbstverständnis, Selbstbehauptung und Selbstfindung liefert. Auch Paris Paloma war im Wettbewerb um den Anchor-Award angetreten und präsentierte im Grünspan eine bemerkenswert geradlinige Performance, bei der nicht Show-Effekte, sondern die Inhalte im Vordergrund standen.
Die Jugendfreundinnen Tallulah Sim-Savage und Lola Sam aus Hastings bilden zusammen mit dem Drum-Powerhouse Alfie Sayers das Post-Punk-Trio HotWax. Soeben hat das Trio seine zweite EP „Invite Me Kindly“ herausgebracht. Wie schon auf der Debüt-EP „A Thousand Times“ finden sich hier musikalische Referenzen an jene Acts, die HotWax selbst als Inspirationsquellen ausweisen – von Karen O und Starcrawler über Hole bis hin zu Blondie – stets angereichert mit einer Prise Psychedelia, Riot Grrrl Attitüde und Pop-Appeal. Zugegebenermaßen fehlten solch subtile Zwischentöne dann bei dem HotWax-Gig im Molotow Backyard ein wenig. Dafür gab’s dann aber die volle Krach-Dröhnung in Sachen allerfeinster Postpunk-Grunge-Orgien im Stile der seligen 90’s. Mag sein, dass HotWax zu jung sind, um diese 90er noch selbst bewusst miterlebt zu haben – herauszuhören war das freilich nicht.
Fazit: Wieder ein Mal wurde deutlich, dass das Reeperbahn-Festival für Musikfans aller Couleur der Maßstab ist, an dem sich alle Veranstaltungen dieser Art nun mal messen lassen müssen. So viel Qualität in Sachen Live-Musik bekommt man in solch konzentrierter Form ansonsten schlicht nirgendwo geboten. Und dabei sind das ganze Rahmenprogramm und die zahlreichen Fachveranstaltungen noch gar nicht berücksichtigt.
Eine Bitte an die Festival-Macher sei jedoch erlaubt: Bitte tragt doch dafür Sorge, dass das Festival wieder eine halbwegs brauchbare Online-Präsenz bekommt. Eine seriöse Event-Planung ist mit dem derzeitigen Layout schlicht nicht möglich.
Im nächsten Jahr geht es dann vom 16.09. - 21.09.24 wieder auf die Reeperbahn.
https://www.youtube.com/@ReeperbahnFestival
Weitere Infos: https://www.reeperbahnfestival.com/