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POP-KULTUR-FESTIVAL 2023 (Kulturbrauerei Berlin 30.08. - 01.09.2023)

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Mitten in den schönsten Sommer-Nachwehen gab es vom 30.08. bis 01.09. die nunmehr neunte Auflage des inzwischen renommierten Pop-Kultur-Festivals in der Berliner Kulturbrauerei zu bestaunen. Immer deutlicher wird dabei der Bindestrich im Namen des Festivals, denn im Vergleich zu „normalen“ Musikfestivals hat diese Veranstaltungsreihe das alleine auf die Musik (und Kommerz) konzentrierte Format konventioneller Events schon lange gesprengt, Anders herum betrachtet versteht sich das Pop-Kultur Festival immer mehr als Bindeglied zwischen verschiedenen kulturellen Bereichen und Disziplinen. Die diesjährige Auflage schien aufgrund der vielen sich teilweise überlappenden Themen- und Format-Komplexe konzeptionell sogar ein wenig überfrachtet, denn letztlich gab es dieses Mal ein Angebot, dass sicherlich für gleich mehrere, verschiedene Festivals ausgereicht hätte.

Bilder von oben: Krista Papista / Gloria de Oliveira / Portrait XO & Neil Mendoza / Fuffifuffzich / Anika / Nichtseattle & Chor

Neben dem Vortrags-/Lesungs-/Diskussions-Angeboten, die parallel zum Musik/und Performance-Programm liefen, gab es ein umfangreiches Geflecht von Film-Screenings, Mitmach-Aktionen, Ausstellungen und natürlich den „Commissioned Works“ genannten, Genre- und Format-übergreifenden Auftragsarbeiten. Dabei kamen gleich mehrere Schwerpunktthemen zum Tragen: Einerseits stand die musikalische Ausrichtung unter dem Leitmotiv der Einbindung afrikanischer Musik-Beiträge und -Elemente, andererseits aber gab es unter dem Motto „Can We Kick It? Yes We Can“ einen Schwerpunkt zum Thema Fußball unter dem Gesichtspunkt des Keychange-Aspektes, der auch in diesem Jahr wieder eine wichtige Rolle spielte. Dazu kamen dann noch die parallel laufenden Veranstaltungen zum Thema „Nachwuchsförderung“ und diverse Networking-Angebote auf Fachpublikums-Ebene. Das war dann einfach zuviel um sich allen Angeboten widmen zu können – und selbst bei Beschränkung auf ein Thema bestand stets die Gefahr des Missing-Out.



Neben dem klassischen Konzertprogramm aus so ziemlich allen Bereichen musikalischer Möglichkeiten in den verschiedenen Spielstätten der Kulturbrauerei waren es dann in diesem Jahr die Commssioned Works, die vom Musikfreund besondere Aufmerksamkeit einforderten, denn anders als in den letzten Jahren waren diese tatsächlich auf originelle Weise musikalisch ausgerichtet.



Das ging mit voller Wucht gleich am ersten Festivaltag gut los: Das Projekt „Lost Voices“ der zwischenzeitlich zur Indie-Ikone aufgestiegenen Lokal-Matadorin Anika war eigentlich bereits für das letzte Jahr angekündigt – musste aber auf dieses Jahr – mit leicht veränderten Parametern verschoben werden. Die ursprüngliche Idee war war gewesen, die aus einem Live-Konzert mit im Wechsel vorgetragenen Gedichten bestehende Performance mit Kopfhörern in einem Theater-Setting zu präsentieren. Aufgrund dessen, dass das Ganze nun in der größten Spielstätte, dem Kesselhaus stattfand, musste von dieser Idee Abstand genommen werden – dafür wurden dann aber die Gedichttexte über die verlorenen Stimmen auf die Wand des Gebäudes projiziert. Dennoch war das Ganze aufgrund Anika’s zunehmend selbtbewussterer Bühnenpräsenz und der optisch anregenden Präsentation vor einem phantastischen Bühnen-Backdrop ein recht immersives Erlebnis.



Parallel dazu fanden in den Venues des Ramba-Zamba-Theaters zwei eher experimentelle Commissioned Works statt. Die unter dem Projektnamen Portrait XO agierende Avantgarde-Künstlerin Rania Kim und der Elektronik- und Computer-Spezialist Neil Mendoza entführten die Zuschauer in einen psychedelischen Bereich zwischen elektronischer Musik, AI und KI, Gesang, und Vokal-Effekten - in dem sich Musik, Klanginstallationen und Projektionen, mit denen Rania Kim dann aktiv interagierte, zu einem letztlich schlüssigen Ganzen verbanden. Auf der Probebühne des RambaZamba Theaters gab es derweil die pure performerische Anarchie zu bewundern. Die in Berlin lebende Zypriotin Krista Papista negierte die musikalischen Bestandteile ihres letzten – eher Dancefloor-orientierten - Albums "Fucklore", indem sie das Material schlicht und ergreifend auf Geschrei, Feedback, die Geräusche zerberstender Perkussion-Instrumente und Kuhglocken, die sie sich um den Körper gebunden hatte reduzierte. Dazu gab es viel Gestampfe, Gejohle und Herumrennen in lustig/urigen Kostümen. Die politische Aussage einiger Momente ging in dem dargebotenen Tohuwabohu dann zwar unter – unterhaltsam und provokativ war das aber allemal.



Am zweiten Festivaltag war es dann Katharina Kollmann a.k.a. Nichtseattle, die ihre beiden musikalischen Anliegen in einer bemerkenswerten Synthesen-Symbiose zusammenführte. So ging es einerseits darum, neue „wundschlaue Lieder zur Selbstbehausung innerhalb der Prekarität“ mit ihrer Band Nichtseattle zu präsentieren und dann zu zeigen, was sie mit ihrem Nachbarschaftschor vom Prenzlauer Berg ansonsten so veranstaltet. Beides – ergänzt um ein paar Coverversionen (z.B. „Helplessly Waiting“ von David Crosby) – wurde nun aber nicht gegeneinandergestellt, sondern in einem höchst heimeligen und wunderbar emotionalem „Gospel According to“ gemeinsam interpretiert. Das sollte unbedingt weiter entwickelt werden – zumal insbesondere die neuen Nichtseattle-Tracks in diesem Setting wesentlich versöhnlicher und nahbarer wirkten, als vieles, was von Katharina bislang dezidiert hakeliger und spröder angelegt wurde.



Ein Kontrastprogramm dazu gab es gleich im Anschluss im Kesselhaus. Dort hatte die Minimal-E-Pop-Anarchistin, DJane und Hip-Hopperin Vanessa Loibl alias Fuffifuffzich mit Trademark-Sonnenbrille, richtiger Band und Streichern (also für ihre Verhältnisse in geradezu orchestralen Rahmen) zur kollektiven Disco-Glam-Party eingeladen. Das war dann mal etwas anderes als die spontane Jam-Session, die sie im letzten Jahr bei der Çaystube veranstaltet hatte – mitmachen taten indes auch im gut gefüllten Kesselhaus wieder so gut wie alle.



Am letzten Festivaltag gab es mit dem Projekt »Serẽa« eine ganz besondere Performance im Grenzbereich zwischen Musik-Theater und Rezitation. Im letzten Jahr hatte die deutsch/brasilianische Songwriterin, Komponistin und Schauspielerin Gloria de Oliveira auf dem Synästhesie-Festival noch ein konventionelles Set mit romantischen Dreampop-Songs ihrer beiden Alben und „Fascination“ und „Oceans Of Time“ zu psychedelischen Projektionen im Frannz Club aufgeführt. Mit ihrem Commisioned Work »Serẽa« indes bewegte sie sich – mit Unterstützung von vier gleichgesinnten Kolleginnen aus der Berliner Musikszene auf einer Ebene irgendwo zwischen Konzert, musikhistorischem Experiment, Poesie und Theater-Performance und präsentierte einen Song- bzw. Liederreigen über die Beziehungen zwischen Frauen, Wasser, Natur und Mystik. Inspiriert von Recherchen über die altgriechische Poetin und Philosophin Sappho – deren Gedichte teilweise auch die Grundlage des Materials bildeten – hatte Gloria eine Sammlung von Musikstücken über Sirenen (»Serẽa« bedeutet „Sirene“ auf portugiesisch), Meerjungfrauen, Selkies und anderer Fabelwesen zusammengetragen und musikalisch dafür auf so unterschiedlichen Bereiche wie den portugiesischen Fado, Bossa Nova, gälischem Folk und deutschem Kunstlied gesetzt. Mit der ungewöhnlichen Besetzung aus Lyra und Querflöte (nach dem Vorbild Sapphos) und unterstützt von den bis zu vier Gesangsstimmen ihrer Kolleginnen führte Gloria als einfühlsame Erzählerin vor einem Backdrop aus aufgemalten Muscheln durch faszinierende organische Klang- und Mythenwelten, die irgendwie zugleich vertraut wie ungewohnt – jedoch niemals fremd - klangen und für viele sicherlich den krönenden Abschluss des diesjährigen Commissioned Works-Programmes darstellte.

Fazit: Auch in diesem Jahr bot das Pop-Kultur-Festival wieder ein breit gefächertes Angebot, das weit über das hinausgeht, was gemeinhin auf Sommerfestivals geboten wird. Für das nächste Jahr wäre aber wirklich ein Mal zu empfehlen, dass das Programm etwas stärker entzerrt oder aufgefächert bzw. anders strukturiert würde, damit eine Schwerpunkt-Bildung für interessierte Besucher überhaupt möglich ist.
Weitere Infos: https://www.pop-kultur.berlin/festival/


Oktober 2023
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POP-KULTUR-FESTIVAL 2023 (Kulturbrauerei Berlin 30.08. - 01.09.2023)
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