Klett-Kotta, 379 S., 28,00 EUR
Es gab eine Zeit, in der war nicht Berlin das Zentrum der Hipness, sondern tatsächlich das heute ja eher entweder anarchisch-bayerische oder saturiert-bürgerliche München. Deshalb ist der Untertitel dieses Buches mit "München 1900 und die Neuerfindung des Lebens" ganz gut gewählt, der Werbeslogan "München 1900: Laboratorium der Moderne" ebenso. Denn zwischen Mitte der 1880er und Ende der 1900er Jahre versammelte sich in der damals vergleichsweise kleinen Stadt (1885 lebten reichlich 250.000 Menschen dort, 1910 schon fast 600.000 – zum Vergleich: Berlin hatte 1885 1,3 und 1910 gut 2 Mio. Einwohner!) jede Menge künstlerische und politische Freigeister, Bohemiens und sonstige Lebenskünstler. Und – das darf man keinesfalls unterschlagen! - Künstlerinnen. Denn Franziska zu Reventlow, Lou Andreas-Salomé, Anita Augspurg, Sofia Goudsticker, Gabriele Münter und Marianne von Werefkin gehörten zweifellos zum so feierwütigen wie kreativen Kern des hier von Stefan Bollmann sehr gekonnt ausgeleuchteten Caféhaus- und Nachtlebens. München galt seinerzeit mit seiner bierseligen, faschingsvernarrten und zugleich sehr kunstsinnigen Bevölkerung als modern, dort war mehr möglich als im wilhelminisch-strengen Preußen-Berlin oder im hanseatisch-verschnarchten Hamburg. Besonders, wenn es um alternative Lebensansätze ging. Albert Langen, Frank Wedekind, Ludwig Klages, Stefan George, Albert von Schrenck-Notzing, Alexander Sacharoff, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Wassily Kandinsky sind nur einige der Männer, die dort auf die eine oder andere Weise gegen den kleinbürgerlich Alltag rebellierten. Die vermögende Industriellen- bzw. Professorengattin Hedwig Pringsheim veranstaltete pausenlos Teegesellschaften und andere gesellschaftliche "events", zu denen die Szene zusammenkam, sich vernetzte und austauschte – eine geborene "networkerin" und Mäzenin. 1896 gründet Albert Langen die schnell zum Sprachrohr der Moderne und (selbst in München) zum Ziel polizeilicher Verfolgung werdende Zeitschrift "Simplicissimus", im gleichen Jahr Fritz von Ostini und Georg Hirth "Die Jugend", deren Ästhetik einer ganzen Stilepoche ihren Namen gab (wenngleich wir hier lernen dürfen, dass es auch und gerade die Zeichnungen und Stickerei-Entwürfe von Hermann Obrist waren, die dem Jugendstil zum Durchbruch verhalfen). Von Schrenck-Notzing und Otto Gross führten, z.T. dicht an Parapsychologie und Hypnose-Scharlatanerie kratzend, die Lehren Freuds in München ein – von anderer Seite kamen feministische Ansätze oder schlicht alle sexuellen Konventionen leugnende Lebensmodelle hinzu (mit Franziska zu Reventlow als Blaupause einer komplett selbstbestimmt lebenden Frau), GeschlechterGrenzen lösten sich dort schon vor 140 Jahren auf und Ernst von Wolzogen prägte mit seinem Roman "Das dritte Geschlecht" gleich den Begriff dazu. Secession und Blauer Reiter. Moderner Tanz und Radikale Literatur – kurz: es brannte die Luft. Diese Stimmungen und Strömungen weiß Bollmann auch in ihren Verzweigungen und Irrwegen so bündig wie schlüssig zu schildern, die mannigfaltigen Querverbindungen ebenso aufzuzeigen wie pausenlose Streitigkeiten und Abspaltungen. Ein wenig zu kurz kommen (mir) nur die politischen Randbedingungen und Schwingungen (nur wenig später lebt in München ja kurz der Traum einer Räterepublik und trotzdem kommt z.B. Erich Mühsam hier nicht vor) und die ökonomischen Umstände und Veränderungen jener Zeit. Mit seinem feinsinnigen, sprachlich hochklassigen und dennoch bestens lesbaren, gelegentlich auch leicht spöttischen Plauderton erinnert Bollmanns Stil an die hochverehrte Kerstin Decker (die bekanntlich höchst Lesenswertes u.a. zu von Reventlow und Andreas-Salomé verfasst hat, was in der Bollmans Text angefügten "Literaturauswahl zu den Hauptfiguren des Buches" leider ignoriert wird) – und mehr an Lob kann zumindest ich kaum verteilen.Weitere Infos: www.klett-cotta.de/produkt/stefan-bollmann-zeit-der-verwandlung-9783608986778-t-8399