(Arco, 372 S., 25,00 Euro)
Manchmal befällt mich angesichts der Riesenmenge an Dingen, von denen ich rein gar nicht weiß, eine gewisse melancholische Resignation. Fallweise verstärkt oder gemindert wird diese dann von der Erkenntnis, dass es zu all diesen Dingen (und noch vielen vielen mehr) wunderbare Bücher gibt – man bräuchte nur die Zeit, all diese Texte auch zu lesen, das auf diesen Seiten angehäufte Wissen zu inhalieren und (zumindest teilweise) in den eigenen mnestischen Schatz aufzunehmen. Wieso diese Einleitung? Nun, über China weiß ich viel zu wenig und will deshalb schon lange mal was tiefer Gehendes zur chinesischen Geschichte lesen (nicht nur, aber auch über Mao). Aber auch über das China von heute weiß ich, von einigen Allgemeinplätzen abgesehen, quasi nix, genauso wenig über das des 20. Jahrhunderts. Und da kommt Ma Yuan ins Spiel. Der im letzten Jahr 70 gewordene Autor gilt als einer der Protagonisten der literarischen Avantgarde Chinas, weshalb ich mich gespannt über dieses Buch mit acht von Julia Veihelmann übersetzten Erzählungen beugte. Meine Neugier wurde nicht enttäuscht, die Ankündigung des Verlags, dass hier "die gekappte Verknüpfung der chinesischen Literatur mit der literarischen Moderne" wiederhergestellt wird, ebenso wenig. Denn Ma Yuans Texte sind nicht durch einen surrealen Humor und vielfältige (zuweilen ironisch gebrochene) Verweise auf Mythen und Traditionen geprägt, sondern es weht dort neben jeder Menge chinesischen, genauer tibetischen Lokalkolorits auch immer der Atem des Magischen Realismus (ähnlich wie und doch ganz anders als z.B. bei Vargas Llosa); es regiert die Lust am Bruch und am Perspektivwechsel. Mal verliert sich Ma Yuan in kleinteiligen Details, mal bricht er seine Geschichte ab, bevor es zu einer (Auf)Lösung kommt, oft scheint er sich an Hemingways Eisbergtheorie zu halten und lässt das vermutlich ohnehin Klare mit großer Meisterschaft weg. Wobei es dem abendländischen Leser schwer fallen könnte, zu unterscheiden, ob die Konzentration auf das Verschwinden einer Mütze aus dem Schlafsaal eines Landverschickungslagers angesichts parallel stattfindender Geburten und zugehöriger Verwicklungen nun ein erzählerischer Trick ist oder kulturell geprägte Prämissensetzung (was mag anno 1970 einem von den Exzessen der Kulturevolution geprägten Jugendlichen wichtiger sein?). Ob nun beim Beischlaf in einer Leprakolonie, beim Künstlerpicknick mit der "Flussgöttin von Lhasa", beim voyeuristischen Versuch, an einer "Himmelsbestattung" teilzunehmen oder beim Diebstahl antiker Münzen – Ma Yuan liebt das "postmoderne Verwirrspiel um Wahrheit und Lüge" und das permanente assoziative Balancieren auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Täuschung. Neben der feinfühligen, durch eine Vielzahl an (dankenswerter Weise im Texte gekennzeichneten) Anmerkungen und Erläuterungen noch verständlicher werdenden Übersetzung muss unbedingt auch noch Julia Veihelmanns kluges Nachwort erwähnt werden – besser als dort kann man das Paralleluniversum, das Ma Yuan mit seinen Texten entwirft, kaum analysieren.Weitere Infos: www.arco-verlag.com/buecher/titel/154-drei-arten-papierdrachen-zu-falten