(Kröner - Edition Klöpfer, 344 S., 26,00 Euro)
Inspiration für diesen historischen Roman war neben einem 1992 im Frankfurter Dom gefundenen fränkisch-merowingischen Kindergrab das "Testament des Adalgisel Grimo", die älteste mittelalterliche Urkunde des Rheinlandes. Wir fallen mit der Autorin (die nicht nur Ballett und Rechtswissenschaften, sondern auch Kunstgeschichte und Archäologie studiert hat) zurück in eine fremde Zeit, ins frühe Mittelalter, in die Zeit der Merowinger, in die Jahre des Übergangs von römischen Trümmern zur karolingischen Großmacht. Eine Zeit, die sowohl (populär)wissenschaftlich wie auch literarisch seltsam unterrepräsentiert scheint (manche schwurbeln ja sogar von "erfundenen Jahrhunderten"). Umso wichtiger ist es, dass Kemmerzell nicht nur spannend und sprachlich dicht zu erzählen weiß, sondern offenkundig auch sehr gründlich recherchiert hat. Was leider an manchen Stellen dazu führt, dass gar zu viele Personen in den Text drängen, Menschen mit sicher belegten, für den heutigen Lesern aber doch "schwierigen" Namen, und ich so zuweilen ein wenig den Überblick über Richar und Chrodechilde, Romarich und Severa verliere (das Personenregister im Anhang hilft einem aber schnell wieder in die Spur). Und zumindest ich als ausgewiesener Nichtexperte kann an den sehr plastisch geschilderten Situationen, Dialogen und Gedanken keine ahistorischen Webfehler entdecken (vielleicht bis auf die Frage, ob man bei einem Gelage damals wirklich schon eine Gabel benutzte) – es ist neben der adäquat-kunstvoll-fremden und doch verständlich-nachverfolgbaren sprachlichen Ausformung gerade diese Genauigkeit auch im Detail, die diesen Roman so lesenswert macht. Wir verfolgen deshalb nur zu gern das Leben der Geschwister Ermengundis und Adalgisel genannt Grimo, ihre wahrhaft aufregende Reise durch eine ferne Zeit, geprägt von Pest und Krieg, aber auch von Liebe und durchaus auch (wieder)erstarkendem weiblichem Selbstbewusstsein (was sich z.B. in dem seinerzeit umstrittenen Wunsch nach der Einrichtung weiblicher Klöster äußert). Aufschlußreich ist da z.B. die Passage, in der König Otto Recht zu sprechen hat: man erfährt hier u.a., dass das Leben eines freien Franken mit 200 Solidis aufgewogen wurde, das eines Mädchens mit der gleichen Summe und das einer "freie(n) Frau in dem Alter, da sie Kinder bekommen kann" mit 600 Solidis. Mit Kemmerzell begleiten wir Ermengundis und ihre Nachkommen durch das ganze 7. Jahrhundert, denn der Roman endet mit dem frühen Tod ihrer Ur-Ur-Enkel, die als 4jährige nach christlicher und(!) "heidnischer" Sitte dort begraben werden, wo dem Mönch Rendinus gestattet wird, in der Siedlung Franconofurd eine "steinerne Kirche" zu errichten. Das kurze Nachwort endet mit diesen schönen Worten: "Ich denke, dass es so gewesen ist. Vielleicht."Weitere Infos: www.kroener-verlag.de/details/product/gestern-im-jahr-634
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