Richard Z. Kruspe hat einiges zu erzählen. Und das kommt nicht von ungefähr, sondern hat einen Namen: sein kleines Baby Emigrate. Im Kopf schon vor geraumer Zeit geboren, ist es nun frisch geschlüpft, hat das Licht der Öffentlichkeit erblickt und macht nun seine ersten Gehversuche. Warum Kruspe das vermeintlich kleine Ding so viel bedeutet, erklärt er professionell wie auch persönlich - trotz Marathon-Promo und Jetlag.
Man möchte meinen, dass dieser Herr doch eigentlich alles erreicht, erlebt und geschafft haben sollte, was ein ambitionierter Musiker an Erfolg hierzulande sein Eigen nennen kann. Immense Verkaufszahlen, ausverkaufte Touren und eine beispielhafte Medienpräsenz zwischen Polarisierendem, Fantasievollem und Fanatischem. Der weltweite Erfolg dürfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Rente von ihm und seinen Rammstein-Mitstreitern gesichert haben - warum also gibt er sich die Heidenarbeit eines Soloprojektes?„Ich bin extrem rastlos. Das ist wirklich ein Problem bei mir. Ich definiere mich sehr über meine Arbeit. Ich brauche die Arbeit, wie ein Junkie seine Drogen braucht. Ich fühle mich schlicht und einfach nicht wohl, wenn ich am Tag nichts Kreatives geschaffen habe.”
Neben dieser Rastlosigkeit und Getriebenheit, gibt es aber noch weitere Gründe für das Dasein Emigrate.
Es war ungefähr vor zwei Jahren, als sich der Hauptbrötchengeber zu einer einjährigen Komplettpause entschied und die ersten Gerüchte aufkamen, dass Kruspe an einem Seitenprojekt arbeite. Kruspe hatte Berlin den Rücken gekehrt, versuchte in New York Fuß zu fassen und wanderte damit auch emotional ab:
„Das Ganze war eine notwendige Befreiung aus einer Situation, die nicht mehr gesund für mich war. Die Band und auch die Stadt Berlin haben mir irgendwann regelrecht körperlich geschadet. Es war nicht zuletzt auch eine gewisse Sattheit von all dem. Ich habe, denke ich, alles erreicht, was man mit einer deutschen Rockband erreichen kann. Aber ich möchte mich darauf nicht ausruhen, sondern suche auch nach der Herausforderung.”
Seine Sehnsucht nach Abenteuer und die Suche nach einer neuen Zeitqualität hatten aber nicht nur ihre guten Seiten. Das Altbekannte, das Gewohnte und die Geborgenheit spendenden Sicherheiten wurden von einer neuen Sprache, einer fremden Umgebung und einer ungewohnten Kultur abgelöst. Wortwörtlich verlassen fand Kruspe sich letztlich in einer Metropole der Einsamkeit wieder.
„Was mir bei der ganzen Sache sehr geholfen hat, ist die so genannte Oberflächlichkeit der Amerikaner. Für mich ist diese immer eine Art Offenheit gewesen, die mir den Kontakt zu Menschen hergestellt, erleichtert und bewahrt hat.”
Diese neuen privaten, beruflichen und auch sozialen Umstände rücken Emigrate immer weiter aus dem Licht eines bloßen Seitenprojektes, eines spaßigen Zeitvertreibs oder einer spinnerten Idee heraus. Denn Emigrate ist die musikalische Vertonung eines neuen Lebensabschnitts von Kruspe, ein privater Entwurf und ein bewusster Neuanfang.
„Ich wollte die eigene Identität, die ich bei Rammstein habe, verlassen. Ich wollte eine neue Figur erschaffen, eine Person, die zwar da ist, aber eben noch keinen richtigen Platz gefunden hat. Ganz einfach deswegen, weil ich von meiner Person innerhalb Rammsteins gelangweilt war.“
Auch wenn Kruspes Alter Ego Emigrate von essentieller Wichtigkeit für ihn als Person und Musiker ist, so stellt er doch wiederholt, vehement und entgegen wilder Spekulationen klar:
„Rammstein hat natürlich erste und oberste Priorität für mich. Wir arbeiten gerade an einem neuen Album.“
Trotz dieser klaren Verhältnisse war der Schritt, dass sich Kruspe austoben, seiner Rastlosigkeit freien Lauf lassen und sich als Sänger ausprobieren konnte, eine wichtige Geschichte für Rammstein. Denn dieses kleine Baby Emigrate hat ganz viel ausbalanciert - nachhaltig natürlich bei Rammstein, bei denen Kruspe in der Vergangenheit über weite Strecken zu präsent war, an vorderster Front aber in seinem eigenen Leben:
„Natürlich habe ich mich oft gefragt: Braucht die Welt meine Musik? Aber das ist egal, denn ich brauche sie! Ich brauche sie, um mich zu vervollständigen.“
Aktuelles Album: Emigrate (Pilgrim / Motor Music)