Katy Kirby schwimmt sich frei – menschlich wie künstlerisch: Auf ihrem famosen Debüt ´Cool Dry Place´ hatte die ursprünglich aus einem streng christlich geprägten Umfeld in Texas stammende Amerikanerin vor drei Jahren ihre eigene Jugend aufgearbeitet, die Lieder ihres nun erscheinenden zweiten Albums dagegen drehen sich um die tiefgreifenden Veränderungen in ihrem Leben seitdem, wenn sie mit bisweilen herrlich blumigen Worten ihr befreiendes Coming-Out nachzeichnet und mit einem spürbar üppigeren, aber nie überbordenden Sound zwischen Singer/Songwriter-Pop, dezenten Schlenkern zu Folk und Country und einigen willkommenen Jazz-Anleihen auch klanglich neue Wege geht.
Seit Katy Kirby Anfang 2021 ihren LP-Erstling veröffentlicht hat, ist viel passiert:"Ich hatte in der Vergangenheit die Möglichkeit, einige meiner Heldinnen und Helden wie Andy Shauf, Julia Jacklin, Waxahatchee oder Alex G. zu supporten und sie jeden Abend auf der Bühne zu sehen, und ich durfte diese neue Platte mit meinen engsten Freundinnen und Freunden machen und auf meinem Traumlabel veröffentlichen. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals auf ANTI- sein würde, geschweige denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt meiner Karriere, und ich bin gleichermaßen schockiert und überglücklich, dass das passiert ist!"
Apropos geschockt: Schien sie bei ´Cool Dry Place´ selbst ein wenig überrascht, dass ihr ein solch fabelhaftes Debüt geglückt war, war der Schock ob des nicht minder beeindruckenden Nachfolgers nun nicht mehr so groß.
"Dieses Mal fühlte es sich ein bisschen natürlicher an", gesteht sie schmunzelnd "Beim ersten Album habe ich einfach drauflosgeschrieben, ohne wirklich zu wissen, wohin mich das führen würde. Dieses Mal war das Schreiben intentioneller. Mir war bewusst, dass ich auf ein zweites Album abziele, und ich hatte ein Label, mit dem ich zusammenarbeitete."
Sie lacht. "Ich wusste, dass ich die Platte fertigbekommen musste. Deshalb fühlte sich alles, anders als bei der ersten Platte, auf eine bewusstere Art und Weise arbeitsintensiv an."
Doch nicht nur klanglich bedeutet die neue LP einen großen Schritt für Katy. In den hochsensiblen Sehnsuchtsliedern des Albums widmet sie sich der Liebe und all ihren Graustufen und blickt dabei durchaus mit einem Anflug von Wehmut, aber trotzdem nicht übertrieben melancholisch auf ihre erste queere Beziehung zurück. Am Anfang lässt sie uns genauso daran teilhaben wie am Ende. ´Wait Listen´ erzählt, wie sich Katy zum ersten Mal in eine Frau verliebt, und schildert all die Verwirrung und Neugier, die damit einherging, ´Alexandria´ dagegen vollendete sie, wenige Wochen nachdem die Beziehung in die Brüche gegangen war. Doch fällt es ihr eigentlich leichter, Songs über den Beginn einer Romanze zu schreiben, wenn man alles noch durch die rosarote Brille sieht, oder über den Scherbenhaufen am Schluss?
"Ich schreibe eigentlich nie Liebeslieder während einer Beziehung, weil ich das Gefühl habe, dass mir der nötige Abstand fehlt", erklärt sie. "Die meisten meiner Liebeslieder sind entstanden, als es schon vorbei war oder als mir bewusst wurde, dass es auf das Ende zugeht. Dann habe ich das Gefühl, dass ich das Gesamtbild vor Augen habe: Jetzt kann ich darüber schreiben!"
Sie lacht.
"Die glücklichen Liebeslieder sind viel schwerer!"
Die erste Nummer, die Katy für das neue Album schrieb, war der Titelsong, der nun auch das Herzstück der LP ist – ein klassischer Fall von "Das Leben imitiert die Kunst". "
´Blue Raspberry´ war mein Versuch, ein Liebeslied über eine Frau zu schreiben - und das war zunächst nicht mehr als ein Experiment", erklärt sie. "Da war mir noch nicht bewusst, dass ich queer bin. In dieser Hinsicht hat das Leben wirklich die Kunst imitiert, denn mit dem Song habe ich die Dinge vorhergesagt, die später tatsächlich passiert sind. Die weiteren Lieder sind dann entstanden, als die Beziehung sich entwickelte."
Trotz dieser zeitlichen Distanz faszinieren die Lieder auf ´Blue Raspberry´ gerade auch durch ihre Unmittelbarkeit. Während heute viele andere Künstlerinnen und Künstler so sehr mit der Zukunftsplanung ihrer Karriere beschäftigt sind, dass keine Zeit bleibt, im Moment zu leben, tut Katy mit diesen neuen Songs genau das.
"Die Texte sind aus einem Blickwinkel geschrieben, in dem ich genieße, was vor meinen Augen geschieht", bestätigt sie. "Die Beziehung, um die sich die Lieder drehen, war insofern experimentell, als dass es eben meine erste queere Beziehung überhaupt war, und ich denke, meine damit verbundene Unsicherheit hat dazu geführt, dass ich versucht habe, bei all diesen neuen Erfahrungen sehr präsent zu sein. Ich habe keine Gedanken daran verschwendet, die Zukunft vorherzusagen."
Echt sind allerdings nicht nur die Emotionen, die Katy in ihren Texten transportiert. Auch klanglich ist das neue Album wunderbar naturbelassen und mit sanften Streicher- und Bläser-Parts deutlich facettenreicher ausgestaltet als der eher minimalistische Vorgänger. Zu verdanken haben wir das den beiden Produzenten und Multiinstrumentalisten Alberto Sewald und Logan Chung, Keyboarderin Lane Rodges (übrigens eine alte Highschool-Freundin Katys) und Drummer Austin Arnold, die Katy die Arbeit an den Arrangements abnahmen und die Songs farbenfroh ausstaffierten.
"Diese Menschen sind meine besten Freundinnen und Freunde und ich vertraue ihnen einfach", erklärt Katy. "Dass sie in meiner Nähe waren, während ich die Songs geschrieben, während ich sie gelebt habe, hat sehr geholfen, denn so wussten sie genau, was in meinem Leben passiert. Ganz abgesehen davon sind sie einfach auch sehr geschmackssicher."
Doch obwohl Katy das Musikmachen inzwischen mehr als bei ihrem Debütalbum als Job wahrnimmt, hat man beim Hören von ´Blue Raspberry´ doch immer das Gefühl, dass ihr die uneingeschränkte Selbstverwirklichung wichtiger, ist als dem Ruf von Ruhm und Geld zu folgen.
"Ich habe mir um diese Dinge lange Zeit keine Gedanken gemacht, weil sie so weit weg schienen, denn erst jetzt kann ich von der Musik leben", sagt sie. "Als ich jung war, habe ich gesehen, wie sich Künstlerinnen und Künstler, die ich bewunderte, weiterentwickelt haben und größer geworden sind, aber oft hat ihre Musik darunter etwas gelitten. Das fand ich immer ziemlich enttäuschend. Ruhm und Geld scheint die meisten Menschen unglücklich zu machen, und allein deshalb bin ich daran nicht wirklich interessiert."
Aktuelles Album: Blue Raspberry (ANTI- / Indigo)
Weitere Infos: www.kirbykaty.com Foto: Tonje Thilesen