Markus Acher sitz in der S-Bahn. Erleichtert, denn er hat seinen Koffer wieder, den er kurz zuvor noch am Flughafen vergessen und stehengelassen hatte. Glück gehabt, denn eine gute Seele hat diesen Koffer voller Rassel- und Perkussions-Instrumente nicht eingesackt, sondern netterweise abgegeben. Dann klingelt das Handy von Markus, Bruder Micha ist am Apparat. Wie soll das neue Album denn nun heißen? „The Devil, You + Me“. Gut. In letzter Sekunde entschieden umentschieden. Markus verlässt die Bahn – erleichtert, aber ohne Koffer. Typisch. The Notwist.
Das Sammelsurium jener Unikate ist seitdem definitiv fort. „Das war damals“, so erzählt Micha Acher heute am Telefon, „die heiße Endphase des Albums, in der uns so viel durch die Köpfe ging und viele Entscheidungen getroffen werden mussten.“Gemeint ist Album Nr. 6, das so lang auf sich warten ließ und der Plattenfirma nun den über sechs Jahre hinweg gewachsenen Steinkoloss vom Herzen fegt. Nach dem ersten Hördurchlauf drängen sich unmittelbar zwei Frage auf: Warum so lang? Und: Was ist alles unter den Tisch gefallen?
„Sehr viel. Und das ist eigentlich bei jedem Album so gewesen. Wir häufen Ideen an, probieren herum, sieben dann aus und entschlacken das Ganze am Ende. Es fliegen immer ganz viele Spuren wieder raus. So etwas dauert eben.“
Erstaunlich, dass trotz großer Diskurse und Kopfzermartern in diesem Fall am Ende doch alles nach Baucharbeit klingt. ‘Neon Golden’, der kolossale Vorgänger, war hingegen eine Art Kopfgeburt, spielte die Band dort doch akribisch und obsessiv mit den ‘Gegensätzen von Band und Elektronik’.
Ganz bewusst wollte man diese Schlucht nun schließen. Weniger Brüche, mehr Verbindungen. Bedingung der Möglichkeit dafür war die gezielt veränderte Studiosituation: The Notwist blieben nämlich daheim, in den eigenen vier Übungsraumwänden. Dort waren alle Instrumente zu jeder Tages- und Nachtzeit aufgebaut, mikrofoniert und griffbereit. Aktion und Reaktion im Raum:
„All das war uns wichtig, denn wir wollten spontaner, schneller, intuitiver an die Ideen herangehen. So sind viele Spuren entstanden, die vielleicht nicht ganz astrein und sauber klingen, aber eben etwas Bestimmtes transportiert haben.“
Alle paar Wochen schneiten dann Olaf Opal, Freund von Anfang an und Hausproduzent der Band, und Oliver Zülch, Olafs Kompagnon und Produzent des letzten Slut-Albums, in die guten Stube. Sie hörten sich den Stand der Notwist-Dinge an, arbeiteten maximal zwei Wochen an ein paar Aufnahmen und ließen die Jungs dann wieder in Frieden.
„Olaf ist wahnsinnig wichtig. Er kennt uns schon so lang, hat immer den Überblick und ist eh sehr prägend für Notwist.“
Prägend vor allem deshalb, weil er den Jungs mehr Mumm zum Popappeal reindreht und den Gesang von Album zu Album weiter hinter dem Ofen hervorgelockt hat.
„Das stimmt. Er macht sich in jedem Fall immer für den Pop bei uns stark. Aber andersherum freut er sich dann natürlich auch, dass er bei uns ganz viel ausprobieren und experimentieren kann.“
In dieser Gemeinschaftsarbeit ist ein abwartendes, reflektierendes, reduziertes Album entstanden, das unter der Oberfläche einen Berg großartiger Kleinigkeiten und Subtilitäten versteckt hat. Lange haben sie über all diesem gebrütet, aber alles andere wäre auch untypisch gewesen.
„Notwist würde es nicht geben, wenn wir uns an einen Zwei-Jahres-Release-Rhythmus halten müssten. Dann wären wir musikalisch schon völlig erschöpft. Wir brauchen die Zeit zwischendurch, um Neues kennenzulernen.“
So haben sie sich mit Tied & Tickled Trio, der Themselves-Kollaboration 13 & God, Lali Puna und diversen anderen Nebenbeschäftigungen abgelenkt und sind durch diesen Abstand wieder auf frische Ansätze für neue Ideen gekommen. Siehe Console:
„Ehrlich gesagt verstehe ich das alles nicht, was der Martin da macht“, gesteht Micha. Seine Unwissenheit teilt er mit dem Großteil derer, die The Notwist dieser Tage live erlebt haben. Denn Martin Gretschmann aka Console dreht nicht mehr wild an Abermillionen Knöpfen, sondern schwingt mit zwei weißen Plastik-Fernbedienungen in den Händen uncool die Hüfte. Was dieser Freak da macht? Die Antwort ist so einfach wie durchgeknallt: Console hat über Monate hinweg Wii-Controller dahingehend umgebaut, dass sie als Fernbedienung für seine Effekte, Sounds, Filter und all die anderen Unbekannten funktionieren.
„Wenn man sich das Ganze mal genauer anschaut, dann versteht man noch viel weniger. Das ist schon wahnsinnig.“
Definitiv, aber eben auch absolut typisch. The Notwist.
Aktuelles Album: The Devil, You + Me (CitySlang / Universal)
Foto: Jon Bergman