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KRISTINA JUNG

Autonomie & Eigensinn

KRISTINA JUNG

Ihre Lieder handeln von den düsteren Dämonen am Morgen danach, dem Horror der Liebe und den Zumutungen des modernen Lebens, doch nicht nur textlich, sondern auch musikalisch hat Kristina Jung auf ihrem feinen LP-Erstling das Ungewöhnliche, das Besondere fest im Blick. Auf ´Care & Explosion´ übersetzt die in Baden-Württemberg heimische Singer/Songwriterin schöne, schwarz-romantische Melodien fantasievoll in einen Sound, der tief im klassischen Folk verwurzelt ist, aber auch Schlenker zu Outlaw-Country und sogar Klassik erlaubt und trotz einer gesunden Portion Autonomie und Eigensinn doch urban und zeitgemäß klingt. Dazu passt auch, dass Jung seit der Veröffentlichung ihrer verheißungsvollen Debüt-EP ´Into The Light That I Have Known´ acht Jahre verstreichen ließ: Der gerade Weg ist bekanntlich auch der langweiligste.

´Care & Explosion´ mag ihr LP-Erstling sein, die Musik allerdings beschäftigt Kristina Jung schon fast ihr ganzes Leben lang. Angefangen hat sie mit Klavier und Gesang, bis ihr die unerreichte Joni Mitchell den Weg in die Folk-Welt ebnete – eine Tatsache, die sie auf ihrem Album mit einem feinen Cover von Mitchells ´The Priest´ unterstreicht. Dafür, dass es nach dem Blitzstart mit ´Into The Light That I Have Known´ dennoch eine halbe Ewigkeit gedauert hat, bis jetzt endlich ihr erstes Album in einer liebevoll gestalteten Vinylauflage mit stilechtem Klappcover auf dem Oberhausener Boutique-Label Cosirecords erscheinen kann, gibt es denkbar simple Gründe. Jung ist einfach das Leben dazwischengekommen.

„Die kurze Version lautet: Drei Ortswechsel, drei neue berufliche Betätigungsfelder, zwei Babys, eine Pandemie und ein Hausbau“, erklärt sie im WESTZEIT-Interview. „Fakt ist, dass ich ja nur im Nebenberuf Musikerin bin, Priorität haben also immer erst mal der Brotberuf, den ich im Übrigen auch sehr gerne mache, und seit 2018 eben auch die Kinder."

Wie ein Hobbyprojekt klingt ´Care & Explosion´ allerdings nicht, denn Jung hat nicht nur viel Liebe und Energie in die Aufnahmen investiert, sondern hat im Vergleich zur EP auch viel am Sounddesign und den Arrangements geschraubt. Hallte auf ´Into The Light That I Have Known´ bisweilen noch ein zeitloser Folk-Purismus im Geiste von Sibylle Baier, Nico oder Karen Dalton wider, sind die neuen Lieder nun spürbar aufwendiger in Szene gesetzt und mit Inspiration von Laura Marling, Marika Hackman und Sufjan Stevens deutlicher von Künstlerinnen und Künstlern aus diesem Jahrtausend beeinflusst. Für Jung ist das eher das Ergebnis einer organischen persönlichen und künstlerischen Entwicklung denn die konkrete Suche nach neuen Herausforderungen.

„Ich weiß nicht, ob ´Herausforderung´ es ganz trifft, das klingt so furchtbar anstrengend“, sagt sie. „Aber ich lerne gerne und ich bin gerne autark. Ich habe bis Mitte 20 darauf gewartet, dass irgendein Typ um die Ecke kommt und Lieder für meine Stimme schreibt. Irgendwann war mir das zu doof und ich habe angefangen, selbst zu schreiben. Dann saß ich da mit meinen Songs und habe auf einen Produzenten gehofft, bis ich mir dachte: ´Was du selber kannst, kann dir keiner wegnehmen.´ Das war 2016. Also habe ich Software erstanden und ein Handbuch und habe losgelegt. Motiviert hat mich dabei vor allem die Tatsache, dass ich mir eine völlig neue Welt erschlossen habe."

Facettenreich nicht nur mit Gitarre und Stimme, sondern auch mit Farbtupfern von Synthesizer, Cello, Violine, Kontrabass und Saxofon instrumentiert, klingen die Songs auf ´Care & Explosion´ allesamt betont durchdacht – das Resultat eines akribischen Arbeitsprozesses, wenngleich auch glückliche Zufälle erlaubt waren.

„Da der Aufnahmeprozess gleichzeitig auch mein Lernprozess in Sachen Soundengineering und Produktion war, würde ich sagen: eher das Ergebnis endloser Trials and Errors“, gesteht Jung. „So etwas endet natürlich mitunter in Akribie, aber ich habe mich bemüht, fünfe auch mal gerade sein zu lassen. Gitarrensaiten schnarren, Menschen atmen, Tempi schwanken. Das darf man ruhig hören."

Auch textlich orientiert sich Jung auf der LP bisweilen neu. Statt wie in der Vergangenheit zumeist über fiktive Charaktere zu schreiben, scheinen die neuen Lieder oft näher an ihrem eigenen Leben dran zu sein – und dabei auch noch einen ziemlich großen zeitlichen Rahmen abzudecken. So ist ´Twin Peaks´, eine Hommage an die David-Lynch-Serie, die Jung schon als Teenager faszinierte, und mit einigen anderen Songs wird es noch deutlicher autobiografisch.

„Es ist ´ne Menge losgewesen bei mir“, erklärt sie und gibt gleich noch ein Beispiel. „´Ada´ ist der Name meiner Tochter, das Lied ist ihr Schlaflied, der Herzschlag, der anfangs zu hören ist und den ich in Synthies verwandelt habe, ist der Schlag ihres ungeborenen Herzens. Intimer wird´s nicht."

In den letzten zwei Jahren hat die Pandemie nicht nur Künstlerinnen und Künstler gelehrt, mit enttäuschten Hoffnungen zu leben und Erwartungen kleinzuhalten. Trotzdem sei am Ende die Frage erlaubt: Wo soll das Album Jung hinführen? „Nach Jahren des Planens, inmitten eines vollkommen durchgetakteten Alltags, möchte ich mich von meiner LP einfach überraschen und mich treiben lassen“, antwortet sie. „Sie wird mich irgendwohin bringen. Es wird spannend werden. Das reicht."

Aktuelles Album Care & Explosion (Cosirecrds) VÖ 04.11.


Weitere Infos: www.facebook.com/kristinajungmusic Foto: Frank Bale

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