Die Zeichen stehen auf Neuanfang: Auf ihrem fünften, ´11:11´ betitelten Album verschieben Pinegrove sanft, aber doch spürbar ihre Schwerpunkte, um im Dunstkreis von Emo-Rock, Indie-Country und traditionellen Americana-Tugenden mahnende Botschaften – das Herz des Albums ist genauso grün wie das Coverartwork – mit großer Dringlichkeit und poetischer Schönheit in Songs fließen zu lassen, die aufrüttelnd und tröstend zugleich sind. Frontmann Evan Stephans Hall erzählt im Westzeit-Interview, wie es dazu kam.
Mit ´11:11´schlagen Pinegrove ein neues Kapitel ihrer inzwischen zehnjährigen Karriere auf. Die Neuorientierung folgt auf den Abschied von Amperland, dem Haus in dem kleinen Dorf Kinderhook in Update New York, das für Hall und seine Mitstreiter drei Jahre lang Heim und kreative Basis zugleich gewesen war, bis es schließlich vom Besitzer verkauft wurde. Bevor Pinegrove weiterzogen, entstanden dort allerdings noch der Film und das Livealbum ´Amperland, NY´, die rückblickend wie ein reinigender Abgesang erscheinen.„Im Endeffekt ist es genau das gewesen, obwohl wir das damals vielleicht nicht bemerkt haben“, sagt Hall bei unserem Videochat. „Häuser sind emotional, sie sind es wirklich, und auf diese Weise einen Schlussstrich unter unsere Zeit in diesem Haus zu ziehen, sorgte für einen Abschluss all dessen, was passiert ist, während wir dort gelebt haben. Deshalb war die Songauswahl der Platte auch wie eine Retrospektive angelegt. Ich kann nicht behaupten, bislang wirklich darüber nachgedacht zu haben, aber das ist eine gute Beobachtung!"
Mit Amperland hatten sich Pinegrove einen Rückzugsort wie einst The Band geschaffen, die in ihrem Haus The Big Pink den Grundstein für ihre Weltkarriere legten und gemeinsam mit Bob Dylan im eigenen Keller die berühmten ´Basement Tapes´ aufgenommen hatten. Ist es Zufall, dass Hall und die Seinen das erste Post-Amperland-Album nun ausgerechnet im Studio des früheren The-Band-Schlagzeugers Levon Helm im nur 40 Meilen entfernten Woodstock eingespielt haben?
Er lacht und sagt: „Ich bin mir nicht sicher, ob es Zufälle überhaupt gibt, denn wir fühlen uns doch immer zu den Dingen hingezogen, die uns ansprechen, oder? Es ist schon ziemlich witzig, dass ´11:11´, unser erstes Album in einem echten Tonstudio, nun an einem Ort entstand, der mit zwei großen Räumen ohne Kontrollraum letztlich auch kaum mehr als ein geräumiges Wohnzimmer ist. Orte wie dieser ziehen uns an und es steckt da eine Art Credo drin: Im Wohnzimmer zu spielen hat etwas Beiläufiges, aber auch etwas Einladendes. Hier haben wir gemeinsam mit unseren Freunden Musik gemacht, so wie Levon es früher auch getan hat."
Der Aufnahmeort war allerdings nicht die einzige Neuerung. Hatten Pinegrove ihre Alben bislang stets in Eigenregie aufgenommen, stand ihnen dieses Mal Chris Walla, einst Gitarrist und Produzent von Death Cab For Cutie, zur Seite. Auch wenn sich die Sorge schnell als unbegründet herausstellte, war der Band anfangs schon etwas mulmig ob dieser Entscheidung.
„Auf dem Weg ins Studio waren wir alle total nervös, wir haben gezittert“, erinnert sich Hall. „Es war ein großer Schritt für uns, jemanden wie Chris einzuladen, aber es hat wirklich wunderbar gepasst, und das lag nicht zuletzt daran, dass Chris trotz all seiner Weisheit und Erfahrung sehr zugänglich war. Wir hatten nie das Gefühl, es mit jemandem zu tun zu haben, der Macht ausüben oder uns einschüchtern wollte, obwohl er dazu durchaus in der Lage gewesen wäre."
Trotzdem war der Schritt, erstmals auf Unterstützung außerhalb des engsten Bandumfeldes zu setzen, letztlich konkurrenzlos, der Wunsch, sich weiterzuentwickeln, stärker als die Furcht, im Teamwork die eigene Vision zu verwässern.
Inhaltlich ist das neue Werk bereits treffend als „Zeichen der Hoffnung“ beschrieben worden. Auch wenn Hall selbst eher Anhänger von Bernie Sanders ist – fühlt er sich im Jahr eins nach Donald Trump tatsächlich hoffnungsvoller?
„Ich denke, wir müssen uns eingestehen, dass Joe Biden eine Katastrophe ist“, antwortet er. „Trotzdem denke ich, dass es Gründe gibt, hoffnungsvoll zu sein. ´11:11´ ist eine Bitte, ein Wunsch, ein Papierflugzeug der Hoffnung, das wir gen Himmel fliegen lassen. Mit diesem Album möchte ich zu mehr Gemeinschaftssinn anstiften und einen Anlaufpunkt bieten. Diese Songs sind zum Mitsingen gedacht, sie sollen beruhigend und bestätigend auf das Publikum wirken."
Tatsächlich ist der Gemeinschaftsaspekt ein wiederkehrendes Thema in den neuen Songs, trotzdem stellt sich auch für Hall bisweilen wie die Frage, ob diese Ideen in einer immer stärker entzweiten Welt nicht inzwischen fast eher wie eine Utopie erscheinen.
„Wir sind in einer ziemlich brenzligen Lage, oder?”, fragt er rhetorisch. „Der erste Schritt besteht einfach darin, das anzuerkennen. Deshalb spreche ich das im Song ´Resperate´ auch aus. Ich hoffe, dass es für einige Leute beruhigend ist, eine Stimme zu hören, die sie schon von vier oder fünf früheren Platten kennen, eine Stimme, die sagt: ´Hey, ja, ist gerade alles Scheiße´, aber ich denke, es ist zwingend erforderlich, dass wir versuchen, uns eine bessere Vorgehensweise vorzustellen, und es ist wichtig, dass alle kreativen Köpfe, seien es Künstler oder Menschen, die sich in irgendeiner Weise für die Gesellschaft interessieren, alle, die nicht völlig misanthropisch sind und auf einer einsamen Insel leben, sagen: Dies ist unsere letzte Gelegenheit, um unsere Trägheit abzuschütteln. Es gibt eine wachsende Bewegung von Menschen, die begreifen, dass der auf unendliches Wachstum ausgerichtete Kapitalismus unvereinbar ist mit dem, was wir tun müssen, damit die Welt weiterhin ein bewohnbarer Ort bleibt, insbesondere, dass niemand von der Zerstörung des Planeten profitieren sollte.“
Hall ist davon überzeugt, dass ein Umdenken erfolgen kann, wenn man sich auf kleine, erreichbare Etappenziele konzentriert, anstatt sich von der Masse der in der Gesamtheit nötigen Gegenmaßnahmen lähmen lässt. Sein Interesse am gesellschaftlichen Erneuerungsprozess spiegelt sich allerdings nicht nur in den Texten der Pinegrove-Songs wider, sondern ist tief in der Herangehensweise der Band verankert.
„Ich versuche, immer wieder etwas Neues zu machen, gleichzeitig ist mir aber auch Kontinuität wichtig“, erklärt er. „Wenn wir eine neue Platte aufnehmen, dann errichten wir kein neues Haus, sondern nur einen Anbau für die bizarr zusammengezimmerte Hütte, an der wir vorher gearbeitet haben. Alles soll in Verbindung stehen.“
Aktuelles Album: 11:11 (Rough Trade Records / Beggars Group / Indigo)
Weitere Infos: pinegroveband.com Foto: Balarama Heller