Ruhig und besonnen auf dem Vormarsch: Mit ihrem inzwischen sechsten Album, ´The Jacket´, zelebrieren Molly Hamilton und Robert Earl Thomas alias Widowspeak wunderbar unaufgeregt die Magie des Moments, wenn sie im Dunstkreis von Dream-Pop, Slowcore und Americana-inspiriertem Indie-Folk den betont glatten Sound ihres feinen 2020er-Werkes ´Plum´ gegen eine rauere Klangfarbe mit oft wuchtiger Live-Atmosphäre eintauschen, bei der Thomas´ expressives Gitarrenspiel und Hamiltons betörende Stimme im intensiven Zusammenspiel ihrer Mitstreiter besonders hell erstrahlen. In der Westzeit-Titelgeschichte sprechen die zwei sympathischen Amerikaner nicht nur über ihre neue LP, sondern vor allem auch über die ungewöhnliche, bemerkenswert bodenständige Herangehensweise ihrer kleinen, großen Band.
Widowspeak sind keine Band, die den Erfolg erzwingen will. Anstatt die Spielchen der Musikindustrie mitzuspielen und sich auf den gängigen Social-Media-Kanälen ständig selbst ins rechte Licht zu setzen, übt sich das nach einem Abstecher nach Upstate New York inzwischen wieder in Brooklyn heimische Duo lieber in vornehmer Zurückhaltung. Doch auch wenn der ganz große Durchbruch deshalb ausblieb: Über die Jahre haben sich Molly Hamilton und Robert Earl Thomas, die in der Band wie im Leben Partner sind, eine Fangemeinde erspielt, von der viele Künstler, die ständig und überall die Werbetrommel rühren, nur träumen können. Verbiegen musste sich die beiden dafür nie. Auch auf ihrem neuen Album verlassen sie sich wieder ganz auf die eigene Intuition und beschäftigen sich inhaltlich mit der eigenen Zeit und Arbeit, und mit dem, was sie umgibt.Zugrunde lag den neuen Songs ursprünglich eine fantasievolle Rahmenhandlung aus dem Seidendistrikt einer namenlosen Stadt, bei der die Grenzen zwischen Fiktion und Widowspeaks eigener Biografie verwischten. Doch je mehr sich das Album entwickelte, desto weiter entfernte sich Hamilton von ihrem ursprünglichen Konzept, ohne dass sie rückblickend böse darüber ist.
„Nach zwölf Jahren in dieser Band wissen wir, dass wir ein Album mit einigen wenigen losen Parametern angehen und uns die Freiheit geben können, daraus im Studio etwas komplett anderes zu machen“, sagt sie beim Videocall mit der Westzeit. „Die Platte hat als Konzeptalbum begonnen, aber schon bald ging es nicht mehr darum, die Geschichte zu erzählen. Sie diente mir eher als Krücke beim Schreiben, sie gab mir einen Rahmen, aber trotzdem wurden am Ende doch wieder sehr persönliche Songs daraus."
Die Erkenntnis, der eigenen Wahrheit nicht entkommen zu können, ist nicht neu für die Songschreiberin Hamilton.
„Ich denke, letztlich bin ich unfähig, wirklich die Perspektive einer anderen Person einzunehmen“, sagt sie selbstkritisch. „Ich bin keine Schauspielerin, ich bin sehr leichtgläubig und ich denke, dass ich keine Worte singen und keine Lieder schreiben kann, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass sie mich persönlich widerspiegeln.“ – „Wenn ich deine Arbeitsmuster beobachte, finde ich, dass du dich für abstrakte Ideen begeisterst, denen du am Ende deine eigenen persönlichen Details überstülpst“, ergänzt Thomas. „Das verleiht den abstrakten Ideen ein Gefühl von Realität und Unbestreitbarkeit. Damit bringst du eine Art Hybrid in Gang, und ich denke, darum geht es beim Schreiben."
Mit dem Gedanken, sich ein Stück weit dem Prozess zu ergeben und auf glückliche Fügungen während der Aufnahmen zu vertrauen, fühlen sich Widowspeak nach einem halben Dutzend Platten inzwischen merklich wohler.
„Zehn, zwölf Jahre in einer Band führen auch dazu, dass du deinem Urteilsvermögen stärker vertraust und genau das tun wir jetzt“, verrät Thomas. „Ohne zu viel zu grübeln, sagst du dir: ´Oh, das hört sich gut an, also ist es gut!´ Das Gleiche gilt für das Gegenteil: Du verwirfst schneller etwas, was einfach nicht gut ist. Du merkst schneller, wenn du deine Zeit verschwendest und in eine Sackgasse läufst. Je mehr Platten du machst, desto eher denkst du auch: ´Egal, es ist nur eine Platte´, während du vielleicht beim zweiten Album noch das Gefühl gehabt hast, etwas bewiesen zu müssen. Natürlich versuchen wir stets, unser Bestes zu geben, aber die Beziehung zu unseren Platten ist inzwischen etwas informeller."
Vielleicht auch deshalb ist ´The Jacket´ ein echtes Bandalbum mit unbekümmertem Live-Charakter geworden, das mit sanften Balladen beeindruckt, aber vor allem mit energiegeladenen Jams besticht, die Hamilton und Thomas unter der Produktionsregie des aus dem Daptone-Records-Umfeld stammenden Homer Steinweiss gemeinsam mit Michael Stasiak am Schlagzeug, J.D. Sumner am Bass und Beiträgen von Michael Hess an den Tasten aufgenommen haben, anstatt die Songs wie in der Vergangenheit in kleinen Schritten aufzutürmen. Sogar Hamiltons Gesangsspuren entstanden bei den gemeinsamen Aufnahmen der kompletten Band und klingen deshalb deutlich natürlicher als in der Vergangenheit, als es das auch im Studio spürbare, inzwischen überwundene Lampenfieber der Sängerin manchmal nötig machte, die Gesangsspuren Zeile für Zeile zusammenzuschneiden.
„Bisweilen haben wir später das Gegenexperiment gemacht und Molly die Songs erneut singen lassen, aber das Original war stets besser, weil es aus dem Moment heraus entstanden war“, erinnert sich Thomas an die Arbeit im Studio. „Auch das war Teil unseres Credos, den Songs ihren Willen zu lassen."
Kurz nach der Veröffentlichung des letzten, gerade noch vor dem Ausbruch der Pandemie fertiggestellten Albums und befeuert durch die Lockdown-Isolation im eigenen Apartment, hatten Hamilton und Thomas zunächst mit dem Gedanken gespielt, ´The Jacket´ als Duo aufzunehmen – ein Konzept, das sie dann auf der letztes Jahr als ´Plum´-Nachschlag veröffentlichten EP ´Honeycrunch´ verwirklicht haben –, bevor die Sehnsucht nach Auftritten in der erzwungen tourneefreien Zeit den Wunsch immer größer werden ließ, auch im Studio zu echter Bandatmosphäre zurückzukehren. Doch was genau ist eigentlich der wichtigste Beitrag der Mitstreiter des Duos?
„Nun, ich bin ich in allem gut, also ist Können schon mal wichtig“ antwortet Thomas. „Noch wichtiger, als Menschen mit bestimmten Talenten zu finden, ist für uns allerdings, wirklich musikalische Leute um uns zu haben, Leute mit guter Intuition – und, wenn ich ehrlich bin, einfach auch mit gutem Geschmack. Kinder stacheln sich gegenseitig an und entfachen Chaos, weil sie fürchterliche Sachen tun, aber wenn man mit Menschen zusammenarbeitet, deren geschmacklichen und ästhetischen Entscheidungen man vertraut, dann wird´s richtig gut! Deshalb ist diese neue Platte in erster Linie ein Live-Album. Wir haben Demos der Songs aufgenommen, aber im Studio haben wir einfach den Aufnahme-Knopf gedrückt, ein paar Durchgänge aufgenommen und dann gesagt: `Das war prima, wir haben den Moment eingefangen!´"
Vor allem Thomas kamen die Aufnahmen mit der kompletten Band entgegen.
„Mir gefällt die Idee des Duos, aber ich mag es auch, wenn mein Gitarrenspiel ausdrucksstark sein kann und ich nicht das ganze Lied tragen muss“, erklärt er. „ Wenn du zu zweit spielst, gibt es nur eine begrenzte Anzahl Parts und wenn du die Grundlage wegnimmst, dann verlierst du oft etwas Wichtiges. Ich bin ausdrucksvoller und verspielter mit meinem Gitarrenspiel, wenn ich weiß, dass es eine Band gibt, die alles zusammenhält. Ich mag es, mit der Dynamik zu spielen, und wenn du andere Leute dabeihast, die guten Geschmack haben und ihre Aufgabe verstehen, dann können sie ihre eigene Note einbringen und magische Dinge entstehen lassen!"
Doch auch Hamilton schätzt die Arbeit im Bandgefüge und die Idee eines Jam-orientierteren Sounds, weil sie sich von simplen Strukturen angezogen fühlt und das wiederholende Element des Folk mag, wo ganze Geschichten um wenige Akkorde aufgebaut werden.
„Beim Jammen mit der Band ist das ähnlich“, glaubt sie. „Du nimmst etwas sehr Simples und erschaffst allein mit Dynamik etwas, das am Ende deutlich komplexer ist. Deshalb habe ich mich bei diesem Album auch keine Bedenken gehabt, mich auf die simplen Elemente zu konzentrieren, anstatt zu denken: ´Sollte ich das irgendwie aufmöbeln oder sollte ich etwas hinzufügen, was das Publikum vielleicht in diesem Song erwarten würde?´“
Trotzdem bedeutet diese Unbeirrbarkeit nicht, das Widowspeak ihre Musik nur für sich selbst machen. Tatschlich haben die beiden durchaus konkrete Vorstellungen davon, was sie mit ihren Songs, ihren Alben bei ihrem Publikum auslösen wollen.
„Es ist so, als würde man Leute für eine gewisse Zeit in unsere Welt eintauchen lassen“, erklärt Thomas. „Ich halte uns nicht für supertiefgründig, aber diese Platte spiegelt in 40 Minuten die Gespräche wider, die Molly und ich in den letzten anderthalb Jahren geführt haben – die Musik, über die wir gesprochen haben, die Dinge, die angestanden haben. Am Ende versuchen wir, all das in einer zusammenhängenden, angenehmen Atmosphäre zu präsentieren, in etwa so, als würde man sich einen Film ansehen. Ich möchte, dass unser Publikum für kurze Zeit in unsere Welt eintritt und sie dann wieder verlässt. Das ist keine rhetorische Sache, wir versuchen nicht, etwas zu bewiesen oder versteckte Geheimnisse zu lüften. Es geht einfach darum, Spaß daran zu haben, dort zu sein.“ – „Wir machen das Ganze inzwischen schon so lange, dass wir uns keine karrieretechnischen Ziele mehr setzen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen“, ergänzt Molly. „Also ist das Sinnvollste, was wir tun können, einfach Songs zu schreiben, die sich für uns wichtig anfühlen und unser Bestes zu geben. Wenn das die Menschen anspricht, dann ist das prima!“ Das sieht auch Thomas so: „Ich träume davon, dass wir einfach weitermachen und uns mit der Zeit immer mehr Leute entdecken. Ich finde es großartig, wenn ich über eine für mich neue Band stolpere und feststelle, dass sie schon sechs Platten gemacht hat. Es wäre toll, wenn wir wachsen könnten, weil uns Leute, die bislang noch nichts von uns gewusst haben, uns in unserer kleinen Ecke der Welt finden."
Tatsächlich faszinieren Widowspeak nicht zuletzt durch die Bodenständigkeit, die aus solchen Aussagen spricht. Auch Künstlerisch äußerst sich das, denn Hamilton und Thomas sind ihren ursprünglichen Idealen immer treu geblieben sind und nie der Versuchung erlegen, Trends in der vagen Hoffnung hinterherzulaufen, sich so auf die Überholspur des Erfolgs katapultieren zu können. Jede neue Platte – und da bildet ´The Jacket´ keine Ausnahme – ist ein neues Kapitel mit betont eigener Färbung für das Duo, aber kein U-Turn, kein großspuriger Neuanfang, sondern schlichtweg nur der nächste Schritt auf dem einmal eingeschlagenen Pfad.
„Alles, was mir mögen, hat Patina, ist behaglich“, verrät Thomas. „Das auf unseren Sound auszudehnen, ist vielleicht ein unausgesprochenes Ziel unserer Band. Ich denke auch, sich immer neu erfinden zu wollen, hat eine begrenzte Halbwertzeit. Wenn sich alles immer nur um die größte Veränderung oder den größten Satz nach vorn dreht, gehen dir schnell die Optionen aus oder es wird verwirrend. Wir wollen lieber wir selbst sein und suchen nach Variationen innerhalb unseres abgesteckten Rahmens. Wir gaben lieber tiefer, als den nächsten Kontinent entdecken zu wollen."
Aktuelles Album: The Jacket (Captured Tracks / Cargo) VÖ 11.03.
Weitere Infos: widowspeakforever.com Foto: Alexa Viscius