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ANAIS MITCHELL

Die Rückkehr zum Ich

ANAIS MITCHELL

Im Jahre 2010 veröffentlichte Anaïs Mitchell ihr bahnbrechendes Album „Hadestown“ - eine Art moderner Rockoper im Singer/Songwriter-Setting, bei der Anaïs als Autorin und Komponistin, nicht aber als Performerin im Zentrum stand und ihre Songs von einer Riege hochkarätiger Gäste vortragen ließ. Gewissermaßen liegt dieses Magnum Opus wie ein Schatten über ihrer weiteren Karriere, denn während sie 2012 ein weiteres Konzeptalbum mit Namen „Young Man In America“ vorlegte, arbeitete sie parallel an einer theatralischen Umsetzung von Hadestown als Musical-Produktion, die ab 2016 Produktionen in New York, Edmonton (Kanada), London und schließlich 2019 am Broadway, zwei Original Cast-Recordings und Anaïs' Buch „Working On A Song: The Lyrics Of Hadestown“ nach sich zog. Zudem engagierte sich Anaïs 2019 zusammen mit Josh Kaufman und Eric D. Johnson in der Americana-Supergroup Bonnie Horse Lightman. Kein Wunder also, dass sie zwischenzeitlich nicht dazu kam, an eigenem neuen Solo-Material zu arbeiten. Vielleicht gerade deswegen nutzte Anaïs die Pandemie-Phase für eine Art Reset. Auch weil sie Anfang 2020 ihr zweites Baby erwartete, zog sie – bevor die Pandemie den Big Apple im Griff hatte - von New York zurück auf die Farm ihrer Familie im ländlichen Vermont, wo sie dereinst auch aufgewachsen war, besann sich dort auf ihre Herkunft und nutzte die Chance mit dem nun vorliegenden, selbst betitelten Album ihr erstes eigenes Material seit 2012 zu erschaffen.

Bedeutet das, dass das neue Album in gewisser Weise ein Projekt über die Heimkehr ist?

„Ja, das macht Sinn“, bestätigt Anaïs, „als ich das Album allerdings schrieb, hatte ich gar nicht den großen Überblick, eine Theorie oder gar eine Strategie. Aber wenn ich auf die Songs zurückblicke, dann denke ich schon, dass Du recht hast. Es geht tatsächlich um das Heimkehren und in gewisser Weise auch um das Erwachsen werden und den Lauf der Zeiten."

Hat Anaïs damit vielleicht sogar einen bislang offenen Kreis geschlossen?

„Hm nun ja – es geht zumindest um die Rückkehr“, zögert sie, „ich war im Haus meiner Großeltern und dort hatte ich als Kind viel Zeit verbracht, da das Haus meiner Großeltern in der Einfahrt zu meinem Elternhaus liegt. Meine Großeltern hatten einen Fernseher mit drei Programmen und meine Eltern hatten mir immer verboten, Fernsehen zu schauen. Es gab in dem Haus auch immer viel Handwerkliches. Meine Großmutter hat Steppdecken genäht und es gab einen schönen Garten. Viele dieser Erinnerungen sind mir in den Sinn gekommen, als ich in dem Haus lebte. Ich habe sogar eine Kiste mit Notizen und Journalen aus meiner Highschool- und College-Zeit gefunden und ich habe alle gelesen. Ich habe auch welche davon verbrannt, weil sie so peinlich waren. Ich habe auch Briefe gefunden, wie meine Oma mir geschrieben hatte und Korrespondenzen mit alten Boyfriends. Das hat sich wie eine Heimkehr angefühlt. Und daraus ist dieser Song namens 'Revenant' entstanden. Ein 'Revenant' ist jemand, der zurückkehrt. Es geht darin sicherlich um den Geist meiner Großmutter und sicherlich auch meinen eigenen in diesem jugendlichen Alter. Es geht auch darum, mich mit meinem kindlichen Ich in Verbindung zu setzen. Das ist sicherlich ein Teil dieses Albums geworden."

Bislang schien es ja stets so, dass Anaïs zu jener Spezies von Liedermacherinnen gehörten, die mit sehr präzisen Vorstellungen und einem klaren inhaltlichen Konzept an die Sache heranzugehen schien. Wie kommt es denn, dass sie auf ein Mal in der Lage war, eine eher lockere, persönliche Songsammlung über sich selbst zu schreiben?

„Auf diese Frage habe ich zwei Antworten“, schmunzelt Anaïs, „die erste ist, dass es nichts Präzises an dem gibt, was ich tue. Ich glaube, die Leute räumen mir da mehr Anerkennung ein, als ich verdiene. Es gab nie eine Strategie. Weder bei 'Hadestown' noch bei 'Young Man In America'. Das schrieb ich gerade in einer Phase, in der das, was ich da besinge gerade passierte. Aber: Aber einem bestimmten Zeitpunkt kann ich dann schon gewisse Muster erkennen. Wenn ich ein Muster entdecke, dann kann ich auch ein paar weitere Songs schreiben, die dazu passen könnten. Bei dieser Scheibe war das auch nicht anders. Ich wusste gar nicht, dass ich ein paar Songs aus meiner eigenen Perspektive und über mich schrieb. Erst als ich sie mir dann angeschaut habe, habe ich festgestellt, dass das das Thema der Scheibe ist. Einige Songs, die wieder eher auf Charakteren basierten, die nicht ich selbst sein konnte, habe ich dann sogar rausgelassen."

Zweifelsohne ist Anaïs Mitchell mit dem von Kollege Josh Kaufman produzierten Album ein persönliches Stück Vergangenheitsbewältigung gelungen. Insbesondere jene Fans, die sich an die Zeiten vor dem „Hadestown“-Album erinnern können, dürften sich freuen, endlich wieder „ihre“ Anaïs zurückzubekommen - und sie mit diesem Album sogar noch etwas besser kennenlernen zu können.

https://www.anaismitchell.com/

Foto: Toby Tennenbaum

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