„Die Kinder kreischen und bewerfen sich mit Sachen / Die alten Tanten haben tierisch einen drin / Und wir tanzen und tanzen, in mir hüpft alles vor Lachen / Jetzt zu geh’n, das hat auch wirklich keinen Sinn“ – diese Zeilen stammen aus dem Song „Bleiben“ von Dota Kehr, die mit ihrer Band am Sonntagnachmittag das diesjährige Heimspiel abrundete. Sie könnten aber auch jeden anderen Festivaltag der vergangenen Jahre auf dem Draiser Hof beschreiben, denn hier ist beste (und abwechslungsreiche) Unterhaltung eigentlich immer garantiert.
Dem eigentlichen Drei-Tages-Festival war diesmal ein exklusives Auftaktkonzert von Chilly Gonzales vorgeschaltet, für das man separat Tickets erwerben konnte. Augen- und Ohrenzeugen wussten zu berichten, dass es sich mehr als gelohnt hat, dem Regen (der sich an den folgenden Tagen zum Glück nur noch selten blicken ließ) für diesen besonderen Abend zu trotzen. Für alle, die erst einen Tag später anreisten, begann das Festival mit einem gut abgehangenen Rockset von Willy Mason, bei dem sich Gisbert zu Knyphausen in die vorderen Publikumsreihen mischte und dort fleißig mitwippte. Deutlich sperriger kam die folgende Band Dry Cleaning daher, für deren Auftritte man sich einen Teleprompter zum Mitlesen der Texte wünschen würde. Rauschen diese dagegen schlecht verständlich am Ohr vorbei, kann auf Konzertlänge leicht der Eindruck zu großer musikalischer Gleichförmigkeit entstehen, aus der jedoch mindestens der unwiderstehliche Ohrwurm „Kwenchy Kups“ herausstach – vielleicht einer der besten Smiths-Songs, die nicht von The Smiths stammen. Die Auftritte des Südlondoner Quartetts beziehen ihre Spannung nicht zuletzt daraus, dass Sängerin Florence Shaw während der Songs die vermeintlich Unnahbare gibt, diese Rolle für ihre Ansagen jedoch bereitwillig wieder verlässt und hierbei äußerst sympathisch und publikumsnah agiert.Wenn die Sonne auf dem Heimspiel-Gelände untergeht und die Laune des Publikums immer weinseliger wird, bedarf es häufig nicht mehr vieler Worte: Stattdessen ist dann der Boden bereitet für eine Band wie Meute, deren Musik ohne große Umwege direkt in die Beine geht und lediglich in Ausnahmefällen wie den eingestreuten Coversongs – Röyksopps „What Else Is There?“ sowie Awolnations „Sail“ – auf Gesangseinlagen zurückgreift. Vereinfacht ausgedrückt machen Meute so etwas wie ‚Handmade Techno‘, in dem Blasinstrumente die Hauptrolle spielen. Da man während des letzten Konzertes am Freitag nie so recht wusste, welchem der elf (!) Musiker auf der Bühne man gerade seine Aufmerksamkeit schenken soll, war dieser Auftritt zwar eine Riesengaudi, zugleich aber auch eine herausfordernde Reizüberflutung. Egal, wie viel Mühe man sich auch gibt (mit Bildern, Mitschnitten oder Worten): Ein solches Live-Erlebnis lässt sich natürlich niemals angemessen einfangen, weshalb es eine fast schon befremdliche Vorstellung ist, Meute in Tonträgerform mit ins heimische Wohnzimmer zu nehmen.
Anders sieht das bei Juli Gilde aus, die sich zum Start des zweiten Festivaltages in die inzwischen stattlich lange Liste anspruchsvoller deutschsprachiger Indie-Acts einfügte, die auf dem Heimspiel zu begeistern wussten und deshalb eines Tages noch eine intensivere Nachbereitung verdient hätten (der Teleprompter zum Mitlesen der Texte fehlte schließlich auch hier). Während der Fokus bei Juli und ihrer Band eindeutig auf der Musik lag und der Vorrat an ablenkenden Deko-Elementen auf ein Minimum (nämlich einen mit dem Bandnamen bemalten Reisekoffer) beschränkt blieb, hätte das gesamte Bühnengebaren der nächsten Band im direkten Vergleich kaum unterschiedlicher sein können: The toten Crackhuren im Kofferraum, kürzer und schonender auch nur ‚The TCHIK‘ genannt, hatten sicherlich schon seit dem Augenblick ihrer Bestätigung für einige verwunderte Gesichter gesorgt, schließlich scheint die Zahl der minderjährigen Heimspiel-Besucher*innen, die möglicherweise noch ein wenig vor der großen bösen Welt beschützt werden sollen und eigentlich genau deshalb von ihren Eltern mit nach Eltville genommen werden, Jahr für Jahr zu wachsen. Bei ihrem Auftritt setzten The TCHIK dann in der Tat auf bei Weitem nicht immer jugendfreie Texte, schrille Outfits sowie einstudierte Tanzchoreographien. Ihre energiegeladene Electro-Clash-Abrissparty verlieh dem Samstagnachmittag eine äußerst eigenwillige Note, wirkte aber merkwürdigerweise keineswegs deplatziert.
Bei Muff Potter, die als nächste Band die Bühne betraten, musste dagegen wohl kaum eine*r lange überlegen, ob sie zum Heimspiel passen würden. Während dieser Bandname Anfang der Nuller Jahre gefühlt auf mindestens jedem zweiten Festivalankündigungsplakat zu lesen war (auch wenn nicht auszuschließen, sondern vielmehr anzunehmen ist, dass es sich dabei um eine empirisch nicht belegbare, subjektive Fehlwahrnehmung handelte), waren Muff Potter zwischen 2009 und 2018 lange von der Bildfläche verschwunden. Dass es die Band dieses Jahr live in Eltville zu erleben gab, dürfte wohl dem guten Verhältnis zwischen Sänger Thorsten Nagelschmidt und Gisbert zu Knyphausen zu verdanken sein: ‚Nagel‘ durfte sogar den Dachboden des Knyphausen-Anwesens besichtigen und stolperte dabei prompt über Gisberts erste Gitarre. Schnell war man sich einig, dass es eigentlich ein Unding ist, dass diese bislang noch nie beim Heimspiel zum Einsatz gekommen war. Diese Ehre wurde nun dem Muff Potter-Frontmann zuteil, der sie für einen Song reaktivierte und sich wie das Publikum nicht im Geringsten daran störte, dass sie sich angeblich nicht mehr vernünftig stimmen lässt.
Nach einer soliden Rockshow wartete auf die Besucher*innen mit Martin Kohlstedts Auftritt bereits das nächste völlige Kontrastprogramm. Es war die reinste Freude, dem Musiker während seiner komplexen Instrumentalimprovisationen ins Gesicht zu schauen, denn er wirkte dabei wie ein zehnjähriger Lausbub, der stets auf die Gelegenheit zu einem nächsten (Genie-)Streich wartet. Lief nicht alles so, wie es sich der Maestro vorgestellt hatte, schüttelte er unzufrieden den Kopf, was durch den immer wieder zuverlässig aufbrausenden Applaus der begeisterten Menge allerdings wie pures Understatement wirkte. Große Sympathien schlugen dann auch ÄTNA entgegen, die sich bereits 2018 in die Herzen des Heimspiel-Publikums gespielt hatten und bei ihrem diesjährigen Auftritt aufgrund der hohen Stammgastdichte vom ersten Augenblick an von den daraus resultierenden Vorschusslorbeeren zehren konnten – jedoch ohne sich darauf auszuruhen: Vielmehr konnte man sich am späten Samstagabend auf eine perfekt durchchoreographierte und mit Special Effects nicht geizende Show freuen, der man sich selbst dann nicht entziehen konnte, wenn man mit der Musik des Duos eigentlich gar nicht so viel anfangen konnte oder sie zumindest nicht eigenständig auflegen würde. Als gegen Ende des Sets dann auch noch Martin Kohlstedt für ein gemeinsames Stück auf die Bühne zurückkehrte, verzückte das das Publikum sogar noch ein bisschen mehr als die vorangegangenen Laserhandschuh- und Gymnastikballeinlagen
Dass Paula Paula, die erste Band am Sonntagmittag, auf der Website des Festivals im Vorfeld als ‚Heimspiel Hoffnung‘ angekündigt wurde (und nicht etwa Juli Gilde), mutete etwas unpassend an, denn hier schauten wie im Falle von ÄTNA eigentlich alte Bekannte vorbei. Marlène Colle und Kristina Koropecki hatten schon 2018 als ‚Yippie Yeah‘ auf dem Draiser Hof gespielt – mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass der Bassist der Band Gisbert zu Knyphausen heißt. Hoffnung (und Vorfreude) auf weitere Musik dieses Projektes weckte das Dargebotene natürlich trotzdem, obwohl Marlène & Co. diverse ernste Themen im Gepäck hatten. Drei Songs vom Konzertende werden wohl besonders in Erinnerung bleiben: Erst wurde der Roxette-Klassiker „The Look“ in einer deutschsprachigen Version zum Besten gegeben, anschließend der Überhit des aktuellen Albums ausgepackt („Kaputtes Gerät“) und dann gemeinsam mit dem Publikum ein Abschiedsgruß für die kürzlich verstorbene Sinéad O’Connor angestimmt.
Auch beim nächsten Auftritt blieb die Stimmung ein wenig gedrückt: Tristan Bruschs meist melancholisches bis manchmal morbides Songmaterial passt eigentlich am besten in die späten Abendstunden oder sogar die tiefste Nacht, weshalb es als gewagtes Experiment angesehen werden konnte, Tristan lediglich mit Gitarre und Klavier bewaffnet um 13:30 auf ein zuvor augenscheinlich gutgelauntes Sonntagsbrunch-Publikum loszulassen. Der Künstler schien sich dieses Wagnisses bewusst zu sein, es zugleich aber auf die Spitze treiben zu wollen, denn er kündigte zu Beginn seines Auftritts an, nur seine traurigsten Songs spielen zu wollen. Zur Beruhigung aller fügte er jedoch hinzu, dass das immer ein eindeutiges Zeichen dafür sei, dass es ihm ziemlich gut gehe, da er andernfalls „gar nicht die Kapazitäten dafür hätte“. Und das Heimspiel wäre nicht das Heimspiel, wenn nicht auch dieser Drahtseilakt geglückt wäre und das Publikum der Musik über weite Strecken die verdiente Aufmerksamkeit entgegengebracht hätte. Lediglich als Tristan selbst zwischen zwei Songs einen Dialog mit ein paar Kindern anfing, die sich einen Logenplatz in einem Baum gesichert hatten („Ihr seid die Coolsten hier, echt!“), hatten diese offensichtlich Lust, während des nächsten Songs noch ein bisschen mit ihm weiterzuplaudern, aber auch dieses liebenswerte Störfeuer meisterte der gebürtige Gelsenkirchener mit Bravour und ohne Textaussetzer.
Zum Abschluss des diesjährigen Heimspiels kamen dann DOTA auf die Bühne. Während auf der Tour im kommenden Herbst die Vertonungen von Gedichten der Poetin Mascha Kaléko im Zentrum stehen werden, von denen kürzlich ein zweiter Teil auf Tonträger gebannt wurde, spielten sich Dota Kehr und ihre Band an diesem Nachmittag durch ihr ureigenes Songmaterial – und das mit größter Freude und Begeisterung auf und vor der Bühne. Lediglich „Wenn einer fortgeht…“ aus der neuen Kaléko-Kollektion durfte natürlich nicht fehlen, da Duettpartner Gisbert hierfür nur wenige Meter entfernt im Backstage-Bereich bereitstand. Nach einem wunderbaren Konzert neigte sich das Heimspiel 2023 nun leider seinem Ende zu, weshalb abschließend noch einmal der bereits eingangs erwähnte DOTA-Song zitiert sei: „Wir haben ein Plätzchen gefunden in dem bunten Treiben / Wenn’s am schönsten ist, soll man geh’n / Wenn’s am allerschönsten ist, dann soll man bleiben“ – oder zumindest, so ließe sich ergänzen, Sommer für Sommer wiederkommen!
Foto: Dota Kehr & Gisbert zu Knyphausen / @ Ullrich Maurer
Weitere Infos: https://heimspiel-knyphausen.de/