Als 2020 das Reeperbahn-Festival – sozusagen als erstes seiner Art – in einer Pandemie-gerechten Form mit einem ausgeklügelten Hygiene- und Sicherheitskonzept an den Start ging und störungsfrei realisiert werden konnte, freuten sich alle Beteiligten darüber, dass dies doch eine geeignete Blaupause für die Zukunft darstellen könnte, eben auch während der Pandemie Musik-Veranstaltungen durchführen zu können. Das war insofern schon bemerkenswert, als dass es im letzten September weder Impfungen noch flächendeckende Tests gab. Umso größer war das Erstaunen, dass es in diesem Jahr unendlich lange dauerte, bis überhaupt ein Mal klar wurde, dass das Festival auch tatsächlich stattfinden können würde. Immerhin freuten sich die Fans dann darüber, dass es deutlich mehr Konzerte geben sollte als im Vorjahr und beispielsweise auch wieder zumindest einige nordamerikanische und britische Musiker(innen) mit am Start sein würden.
Oben: Some Sprouts / ThalaMitte: Red Moon / Eugenia Post Meridiem
Unten: Balbina / Nuria Graham
Ziemlich überrascht gewesen sein dürften dann die Besucher des Festivals darüber, dass vor Ort die Corona-bedingten Einschränkungen 2021 deutlich härter gefasst und nachdrücklicher implementiert wurden als im letzten Jahr. Denn während in Hamburg im Allgemeinen die Einschränkungen für 2G-Veranstaltungen fast vollständig aufgehoben wurden, war das Festival selbst nur als 3G-Veranstaltung genehmigt worden, was dann konkret dazu führte, dass es keinerlei Lockerungen für Besucher gab – nicht einmal solche, die im letzten Jahr noch möglich gewesen waren. So gab es wiederum eine Platzzuweisung, ein Bewegungsverbot, Abstandsregeln und vor allen Dingen einen zum Teil nicht nachvollziehbaren, vollständigen Maskenzwang. War es im letzten Jahr beispielsweise noch erlaubt, die Masken am (Sitz-)Platz und zum Trinken abzunehmen, so mussten die Masken dieses Mal selbst im Freien auf den Open-Air-Flächen, auf dem Weg zur Veranstaltungsort und in den Warteschlangen getragen werden und durften auch zum Trinken nicht abgenommen werden (sondern sollten nur kurz gelüpft werden). Wie gesagt: Bei gleichzeitiger Lockerung der 2G-Veranstaltungen im Hamburger Stadtgebiet und konsequent überprüftem Impf-/Genesen-/Testnachweis bei allen Einlassvorgängen.
Allerdings: Das war ja nicht die Schuld der Festivalleitung, sondern jene der sich zunehmend verselbständigenden Lokal-Bürokratie, die dieses Regelwerk nicht nur implementiert und besonders restriktiv ausgelegt hatte, sondern während des Festivals auch penibel überprüfte. Die Ordnungs- und Sicherheitskräfte vor Ort bemühten sich hingegen äußerst freundlich und zuvorkommend, das Prozedere vor Ort zu regeln und zu erklären – aber auch durchzusetzen, denn bei Zuwiderhandlung hätte der Abbruch der Veranstaltung gedroht. Um es mal deutlich zu sagen: Die eigentliche Ursache für diese ärgerliche Situation sind die Corona-Leugner, Impfgegner, Aluhutträger und Schwurbler, die dem Rest der Bevölkerung durch ihre Forderungen jene Freiheiten nehmen, die sie für sich selbst reklamieren. Und diese Egoistenbande erdreistete sich dann auch noch, am Festival-Samstag mit einem Autokorso die Reeperbahn zu blockieren und für ein Verkehrschaos zu sorgen.
So unschön die Sache mit den Masken und dem Bewegungsverbot dann auch gewesen sein mochte: Der unangenehmste Effekt ergab sich dann aber durch die (ebenfalls behördlich angeordnete) Einschränkung der Kapazitäten der einzelnen Spielstätten. Insbesondere vor den kleineren Clubs bildeten sich von Anfang an schon lange vor Beginn der Programmpunkte lange Warteschlangen – was dazu führte, dass speziell die Shows jener Acts, die nur eine Show auf dem Festival spielten, nur von einem Bruchteil der möglichen Interessenten gesehen werden konnten. Auch das für das Reeperbahn-Festival eigentlich maßgebliche „Club-Hopping“ wurde durch diesen Umstand unmöglich. Dass gleichzeitig die Open-Air-Spielflächen oft brach lagen, lag dann nicht nur daran, dass das Wetter nicht mitspielte, sondern auch daran, dass dort nur vergleichsweise wenige Acts gebucht worden waren – und diese dann offensichtlich auch nicht unbedingt zu den Publikumsmagneten zählten.
Kommen wir aber mal zu den positiven Aspekten – und das war dann die hohe Qualität des diesjährigen Musik-Angebotes. Während das vom letzten Jahr übernommene Partnerland Korea sich wegen der Pandemie-Situation erneut lediglich virtuell präsentieren konnte, gab es in diesem Jahr wieder die gewohnten und beliebten Länder-Showcase-Veranstaltungen. Neben Österreich, der Schweiz, Italien und sogar Kanada war zum Beispiel auch Dänemark vertreten – und zwar sogar mit zwei Showcase-Tagen. Auch aus England, Frankreich und den Niederlanden fanden dieses Jahr wieder mehr Musiker den Weg nach Hamburg. Aus den USA konnten indes nur zwei Songwriter – William Fitzsimmons und Scott Matthew – gebucht werden, die auch physisch vor Ort waren. Altmeister Sting für ein paar Songs bei der Opening-Show im Operettemhaus einzufliegen, war sicherlich eher verzichtbar - dafür gab es wieder Konzerte in der Elbphilharmonie und auch die internationale Jury des „Anchor“ Live-Awards war wieder persönlich in Hamburg versammelt. Der „Anchor Award“ ging in diesem Jahr übrigens an das britische Postpunk-Quartett „Yard Act“. Die Zeit für unkonventionelle Entscheidungen der Jury scheint damit also vorbei. Unkonventionell war aber auch die Entscheidung bei dem Festival-Award „Helga“, den Organisator des Orange Blossom Festivals, Rembert Stiewe, als „Stellvertreter für Festivals, die nicht stattgefunden haben“ auszuzeichnen.
Und wer auf der Suche nach unkonventionellen musikalischen Entdeckungen war, der war auch auf dem Reeperbahn-Festival 2021 grundsätzlich wieder richtig. Eine klare Tendenz war zwar nicht zu erkennen – was bei der riesigen Diversität des Angebotes aber auch verständlich ist. Gerade aber die Abwesenheit klassischer Acts insbesondere aus den Bereichen Rock, Americana oder Singer/Songwriter ließ jene Künstler in einem hellen Licht erstrahlen, die sich ihren Weg mit Visionen links der Mitte suchen. Nur mal ein paar Beispiele:
Die dänische Musikerin Andrea Novel kombiniert unter dem Moniker der Moorleiche Ydegirl Elemente aus R’n’B, Hip-Hop und Indie-Pop mit kammermusikalischen Streichern und Bläsern zu einem wirklich eigenständigen Klang-Kosmos.
Das italienische Ensemble Eugenia Post Meridiem überraschte mit einem pyschedelischen Trip zwischen konventionellem Songwriting, Artpop-Strukturen, Prog-Ambitionen, elektronischen Spielereien und – nicht zuletzt – komplexen, philosophisch und poetisch angereicherten Stream-Of-Conscious-Lyrics ihrer Frontfrau Eugenia Fera. Zusammen ergab das ein episches, facettenreiches musikalischem Gesamtkunstwerk.
Bereits im letzten Jahr war die Spanierin Nuria Graham gebucht gewesen – musste aufgrund der damaligen Reisebeschränkungen jedoch absagen. Jetzt – so berichtete sie bei ihrem gefeierten Gig im Imperial-Theater - sei sie langsam die Tracks ihrer vor zwei Jahren erschienenen LP „Marjorie“ langsam leid; was sie indes nicht daran hinderte, zusammen mit ihrer Band einen interessanten Weg zwischen klassischem Songwriting, New Wave-Sound und Old-School-Pop zu finden.
Die heutzutage unter dem Pseudonym Red Moon agierende Künstlerin Joana Deborah Bussinger war früher als Debra Scarlett zwar schon mal beim ESC aufgetreten, hat sich aber nun mit ihrem operettenhaft inszenierten, semi-elektronischen Club-Kook-Pop definitiv neu aufgestellt und verspricht für die Zukunft Außerordentliches.
Gar nichts so Ungewöhnliches – aber so ziemlich alles richtig – macht die Indie-Senkrechtstarterin Thala. Und zwar einfach, indem ihre psychedelisch angehauchten Indie-Pop-Songs allesamt jeweils genau die richtigen Ingredienzen beinhalten und letztlich klingen, wie Genre-Klassiker … und das, obwohl sie teilweise sogar eher zufällig aus den Saiten gefallen sind. In Sachen Gespür und musikalischem Instinkt macht Thala jedenfalls so schnell niemand etwas vor.
Wie gesagt: Auf der musikalischen Ebene gab es überhaupt nichts zu meckern – und dass die Abwicklung des Festivals nicht eben optimal realisiert werden konnte, lag ja nicht an den Veranstaltern, sondern den unseligen behördlichen Vorgaben. Natürlich hat das auch die Festivalleitung erkannt, entschuldigte und erklärte sich mit einem Statement an die Fans und gelobte Besserung für das nächste Mal – in der Hoffnung, dass das Reeperbahn-Festival 2022 dann wieder unter „normalen“ Bedingungen stattfinden darf. Der Vorverkauf für das nächste Jahr läuft jedenfalls schon und als Länderpartner sind die USA nominiert. Das kann ja was werden...
https://www.reeperbahnfestival.com/de/startseite
Thala-Session, Headcrash, 23.09.21