
(Ventil, 382 S., 28,00 Euro)
Liebe Kinder! Ich möchte euch ein Märchen erzählen. Ein Märchen aus einer fernen Zeit. Einer Zeit, in der - doch, doch, das könnt ihr mir wirklich glauben! - die Menschen richtiges Radio gehört haben. Über UKW, da brauchte man nichts weiter als einen Empfänger und Strom, zur Not aus einer Batterie. Nein, kein WLAN, nur Strom. Doch! Jedenfalls hörten damals sogar die jungen Leute Radio; in einem Land, das DDR hieß, ganz besonders gern einen Sender namens DT64. Das ist ein komischer Name, da habt ihr recht, Kinder. Der kommt daher, dass die Radioleute zuerst von einem, nun - heute nennt ihr das vielleicht "Festival", damals hieß das "Deutschlandtreffen" und es war das Jahr 1964, sendeten. Deshalb DT und 64. So. Weil das die Jugendlichen ganz toll fanden, wurde die Sendezeit länger und länger, bis ab 1987 dann sogar (fast) rund um die Uhr "Jugendradio" gemacht wurde. Am besten fanden die Hörer die Mitmach/Ratgeber-Sachen und ganz besonders die Spezial-Sendungen, die sich z.B. mit elektronischer Musik oder Indie-Kram befassten. Da wurden dann sogar kleine Aufnahmesessions für Bands organisiert, die aus verschiedenen Gründen keine Platten machen konnten oder durften (manche wollten auch nicht, aber das erkläre ich euch irgendwann später mal genauer). Ja, so ähnlich, wie das der berühmte John Peel bei der BBC gemacht hat - genau. Als 1990 die DDR aufgelöst wurde, sollte auch dieses Radio seine Sendungen einstellen - "abwickeln" hat man das damals genannt. DT64 war zwar sehr erfolgreich und bei seinen Hörer so beliebt, dass sich Fanclubs bildeten, aber weil die neuen Politiker Angst hatten, hier könnte sich ein böser KommunistenGeist verstecken und irgendwann die schönen blühenden Landschaften wieder in graue abrissreife Städte zurückverwandeln, bestanden sie auf ihrer Entscheidung. Ganz egal, wie sehr die Jugendlichen protestierten. Und weil ihr Radio dann (quälend langsam, aber es soll jetzt vor dem Einschlafen ja nicht mehr zu gruselig werden) gestorben ist, senden die Leute von DT64 heute nur noch in ganz versteckten Nischen. Wenn überhaupt. Denn das große EinschaltquotenFormatradioGleichschaltungsMonster hat gewonnen. Deshalb sucht ihr euch ja auch eure Berieselung aus diesem Internet zusammen. Da sorgt der allwissende Spotify-Algorithmus dafür, dass euch nichts "Unerhörtes" erschreckt. Und erschrecken sollt ihr euch ja wirklich nicht. Also: Schlaft gut, liebe Kinder! - Hm. DT64 gab's wirklich, ältere Menschen werden sich erinnern. Ganz besonders jene, die in der DDR aufgewachsen sind oder die durch eine grenznahe Heimat diesen recht einzigartigen Sender empfangen konnten. Was das Besondere von DT64, seinen Machern, seinen Hörern und seinen Fans ausmachte, haben RadioAktivisten anno 1993 in einem Sammelband beschrieben. Der steht seit über 30 Jahren in meinem Bücherregal - ich habe ihn, ehrlich gesagt, ein wenig vergessen. DT64 weniger, denn bei radio eins vom rbb gibt es noch Reste der einstigen Pracht (auch wenn mit Olaf Zimmermann und (ganz besonders schade) Holger Luckas die letzten Recken 2024 in den Ruhestand gezwungen wurden. Immerhin ist Marion Brasch noch on air...). Der Pandemie-haft um sich greifenden Zwang, die eigene Jugend und ganz besonders eventuelle damalige musikalische Heldentaten zu glorifizieren und auf jeden Fall durch Wiederveröffentlichung noch der letzten verrauschten ProberaumKassette zu dokumentieren, mit schütterem Haar als "lang erwartete Re-Union" live zu präsentieren und auf endlosen Podiumsdiskussionen wie Opa vom Krieg zu erzählen, trägt auch das seinige dazu bei, die Erinnerung an DT64 - hier dann zumeist an das legendäre "Parocktikum" von Lutz Schramm - lebendig zu halten. Es ist dem umtriebigen KulturArbeiter Alexander "Zonic" Pehlemann zu verdanken, dass das DT64-Buch nun nochmal als erweiterte Neuauflage Leser sucht und hoffentlich auch findet. Denn zwischen manchmal eher schlecht gealterten und nur mit zeitgeschichtlicher Kenntnis zu verstehenden Texten sind hier auch einige Radio-historisch hochinteressante Untersuchungen versammelt. Man lernt so manches über politische Zwänge, Abhängig- und Willkürlichkeiten: der 1990/91 von den DT64-Fans versuchte "Marsch durch die Institutionen" hat trotz (angekündigter) StaatskanzleiBesetzungen, Mahnwachen und massenhaften Beschwerdebriefen nicht funktioniert. War zu erwarten, klar. Aber die Aktivisten glaubten damals an ein basisdemokratisches Wunder - was spätestens 1992 einfach nur noch naiv war. Warum der Text der fränkischen TechnoKönigin Marusha (die im Herbst '91 zu DT64 stieß) hier (m.E. als einziger) fehlt und wieso es das wunderbare Foto vom "Reportagewagen auf der Karl-Marx-Allee" auch nicht in die Neuausgabe geschafft hat (dabei wäre das auch für Oldtimer-Fans interessant, weil von dem abgebildeten Fahrzeug, einem Sachsenring P240 Kombi, m.W. nur 6(!) Stück hergestellt wurden), bleibt ein (bzw. zwei) Rätsel. Also: die alten wie neuen Beiträge (uva. von Jürgen Balitzki, Marion Brasch, Christoph Dieckmann, Rex Joswig, Olaf Leitner, Alexander Osang, Lutz Schramm, Jörg Wagner, Olaf Zimmermann) sind nicht unbedingt ein "must read", aber für RadioFans oder an WendeFährnissen bzw. DDR-(Sub)Kultur Interessierte (und als Lehrstück für die systembewahrenden Resistenz der öffentlich-rechtlichen RundfunkVerkrustung vielleicht auch für heutige KulturKämpfer) durchaus aufschlussreich.Weitere Infos: www.ventil-verlag.de/titel/1968/power-von-der-eastside