lectorbooks, 443 S., 19,00 EUR
Ein vor ziemlich genau einem Jahr eigentlich nur wegen des Erich-Schmitt-Covers getätigter Flohmarktkauf entpuppte sich als gleich mehrfach interessante Lektüre, denn das 1956 in der DDR erschienene Kinderbuch über "Messeabenteuer 1999" beschreibt, wie sich 1999 zur Leipziger Messe ein Schuljunge und sein bayerischer(!) Freund u.a. mit seltsamen Robotern in Menschengestalt herumärgern müssen. Der Blick der 50er auf das Jahrtausend-Ende belustigt oft, hat aber auch nahezu hellseherische Momente (die Übersetzungsmaschine "Polymetsch" oder der im ICE-Sprinter Wirklichkeit gewordene "Fliegende Leipziger"). Vielleicht geht es meinem Sohn (oder dessen heute noch ungeborenen Kindern) mit "[empfindungsfæhig]" mal ganz ähnlich, denn hier malt sich der Schwizer Blogger El Arbi aus, wie sich eine von KIs, Gleitern und Hilfs-, Überwachungs- oder auch Kampfdrohnen bestimmte Welt 2082 gestalten könnte. Zu Beginn hatte ich die üblichen, wenn man nach längerer Pause mal wieder etwas aus der Rubrik Abenteuer/Sciene Fiction (im Osten gab’s dafür den schönen Begriff "Utopischer Roman") liest, wohl unvermeidlichen Schwierigkeiten: manches kommt einem arg gestelzt vor, anderes zu unwahrscheinlich oder zu trivial und auch an die Sprache und Szenengestaltung musste ich mich erst gewöhnen. Und doch gerät man bei diesem 400+Seiter recht schnell in einen gewissen LeseSog. Denn irgendwie will man doch immer wieder wissen, wie es weitergeht mit der Privatdetektivin Lea Walker und ihrer mit einer Kampf-KI-getunten Armprothese Cali7. Lea bekommt nämlich den Auftrag, herauszufinden, wer oder was hinter dem Mord an einer kanadischen Top-Programmiererin steckt. Die wiederum untersuchte eine CyberAttacke auf die in (West)Europa regierende KI EuroGov... Ja! – 2084 wird die Welt nicht mehr von Menschen, sondern von (vermeintlich) unfehlbaren Super-KIs regiert (die in gelegentlich zwischen die Kapitel gestreuten Interludien gern mal Millisekunden lange Konferenzen abhalten und sich dort gegenseitig auf den Stand der Dinge bringen). Die Spur führt aus dem von bei superreichen Corpos (=MegaKonzerne) angestellten Systemgetreuen und unabhängigen, aber verarmten und zwischen Kleinkriminalität und Drogensucht oszillierenden Innenstadtbewohnern geprägten Zürich (die Schweiz ist hier nichts weiter als eine "Sonderzone" in der EU) u.a. in die hoffnungslos rückständigen "Christlichen Staaten" (das ist der Südteil der ehem. USA, deren Norden sich nach einem Bürgerkrieg mit Kanada zusammengeschlossen hat) oder auf eine ultra-libertäre Orbitalstation. Beliebte Fortbewegungsmittel sind fliegende Limousinen (die o.g. "Gleiter"), Lea rast aber auch gern auf einem E-Motorrad durch die Gegend. Diverse Schußwaffen und Kampfmaschinen übernehmen den Action-Part, Lea und ihre nonkonformen Freunde den der coolen Identifikationsfiguren. Drogen spielen eine Rolle, vor allem aber wird auch im Jahr 2084 noch kräftig geraucht (was auch eine (vielleicht unterbewusste) Projektion des Autors sein dürfte) und die Zigaretten werden auch in der wildesten HighTech-Umgebung vorzugsweise vermittels Streichhölzern entzündet. Zudem glaube ich bei El Arbi einen deutlichen Waffen-Fetisch diagnostizieren zu können, die Aufzählung von Features und der jeweiligen Stärke irgendwelcher Baller-Dinger erinnert mich immer wieder an die Playstation-Spiele meines Sohns. Egal: der europäischen Bevölkerung scheint es trotz DrogenElend und StraßenGewalt im Grunde ganz gut zu gehen, denn kapitalismuskritische Töne finden sich hier nur selten, die Macht der "Corpos" wird kaum hinterfragt. Eher schon ist "[empfindungsfæhig]" eine (durchaus positive) Reflektion über die Möglichkeiten von KI und ihre Macht sowie über das vielgestaltige, von tatsächlicher Liebe und/oder empathischer Verschmelzung bis zu großer Angst reichende Verhältnis der Menschen zu den DenkMaschinen. Und das macht dieses Buch dann doch zu mehr als einem unterhaltsamen pageturner.Weitere Infos: www.lectorbooks.com/products/reda-el-arbi-empfindungsfaehig