interviews kunst cartoon konserven liesmich.txt filmriss dvd cruiser live reviews stripshow lottofoon

MARLENE STREERUWITZ

Gedankenspiele über die Toleranz

(Droschl, 48 S., 12,00 Euro)

Das Angebot der Bahnhofsbuchhandlungen besteht in der Regel aus meterweise Krimis und den seltsamsten Ratgebern, dann gibt es natürlich noch die jeweils aktuellen "Spiegel-Bestseller"-Stapel und vielleicht eine Ecke mit Bahnnostalgikerbedarf (sowie v.a. im Osten natürlich ein WKII/Landser-Regal) – wirklich Interessantes findet sich dort leider selten. Dabei sind Bücher wie das hier zu besprechende eigentlich ideal für eine Bahnfahrt, knapp 50 schön gesetzte und fein gebundene Seiten sind auch mit der gebotenen Aufmerksamkeit schnell ausgelesen – anschließend kann man den sinnendem Blick aus dem Fenster richten und das Gelesene "verarbeiten". Egal: die "Gedankenspiele" der Österreicherin (Streeruwitz legt u.a. Wert darauf, "Österreichisch" und nicht "Deutsch" zu schreiben!) beginnen auf einem Flug von Wien nach New York – in einer Situation, die sich für mich als Nicht-Flieger am ehesten in einem vollbesetzten ICE abbildet: man weiß nichts von seinem Sitznachbarn, nichts von irgendjemandem "an Bord", nur das gemeinsame Reiseziel vereint die Individuen zu einer temporären "Schicksalsgemeinschaft" (das imaginierte Schicksal heißt im Flugzeug "Absturz", im ICE dann wohl "Eschede"). Jedenfalls stellt Streeruwitz nach 8 Seiten fest: "Wir erdulden einander. Aber Toleranz ist das nicht. Oder doch. Ist das schon Toleranz? Diese Verschmälerung der Person zum Passagier. … Wir vermeiden die Kenntnisnahme voneinander. … Das ist das meiste an Gesellschaftlichkeit, was wir so schaffen. Ein kleines gemeinsames Ziel. … Wir sitzen nebeneinander und starren nach vorne." Darüber kann man mindestens 50 Zugkilometer lang nachdenken. Später dann Sätze wie: "Verzeihen. Das ist ohnehin nur der Verzicht auf Vergeltung." Noch später über eine (vermutliche) "Migrantin": "Dann erscheint ein Staat wünschenswert, auch wenn der das Ziel der Toleranz aufgegeben hat. Dann muss ein bisschen Toleranz genügen. Aber. Ich fragte mich. Wie wird das weitergehen. / Wenn die Klimaprobleme intolerante Lösungen finden. Was zu erwarten ist." und "Solange nicht jeder Person das Lebensrecht zugestanden und abgesichert ist. So lange wird Toleranz die Intoleranz nur überdecken. Abfedern. Mildern." Der Bogen schnell (noch) weiter gespannt: "Folter ist ein normales Mittel der Landesverteidigung geworden. Folter ist normalisiert. / Vorerst gegen Feinde außerhalb." Das alles reicht für mindestens 200 km. Man muss gar nichts über den phantastischen Stil dieses Textes sagen, seinen wundervollen SprachRhythmus, seine Renitenz, sein NichtGefallenWollen (und -Müssen) - die aufgeführten Zitate dürften ausreichen, um Lust auf’s Lesen und (wortwörtliche) NachDenken zu machen. Streeruwitz’ Gedankenspiele enden jedenfalls so: "Wir müssen von vorne beginnen. Wieder einmal."
Weitere Infos: www.droschl.com/buch/gedankenspiele-ueber-die-toleranz/


November 2023
ANTON ARTIBILOV
DAN DINER (Hrsg.)
DOMINIK SPENST
FRANZ WAUSCHKUHN/CARL-LUDWIG PAESCHKE
HARALD HAARMANN
JENNY ODELL
JOEY REMENYI
MARLENE STREERUWITZ
PER J. ANDERSSON
‹‹Oktober Dezember››