(Suhrkamp, 525 S., 26,00 Euro)
Der Österreicher Setz wurde für sein bisheriges RomanSchaffen schon vielfältig gelobt und ausgezeichnet, ein Umstand, der sich mit diesem Buch weiter fortsetzen dürfte. Dabei wagt Setz hier in seiner bekannten Meisterschaft im Umgang mit Sprache und TextKonstruktion auch manches: er betritt thematisch ein durchaus vermintes Gelände, seine Hauptfigur ist eine reale historische Person und die zu enttäuschenden Erwartungshaltungen sind sowieso gewaltig. Gegenstand seiner Betrachtungen ist Peter Bender, ein 1893 in Bechtheim bei Worms in eine Kaufmannsfamilie geborener Einzelgänger, dem schon als Kind Seltsames geschieht: "Und manchmal bei Hochdruckwetter: ein plötzlicher, stechender Schmerz in der Schädelnaht, dann spürt der Junge deutlich, wie sich in den Nachbarhöfen die Brunnen vertiefen." Im 1. Weltkrieg lernt er den Schrecken dieser ZivilisationsEntäußerung kennen, er verliert Freunde und überlebt als Fliegerleutnant einen Absturz, der anschließende Lazarettaufenthalt vermag nicht alle (psychischen) Wunden zu heilen. Aber er hat aus der Flugzeugkanzel auch den Horizontbogen gesehen – aus der zur Belustigung seiner Kameraden gedachten Idee von den als kosmische Boten der Erde zustrebenden Planeten wird nach und nach eine Überzeugung. Die gipfelt in seiner Vision einer "Hohlwelt", die zugehörige Theorie stammt nicht in Gänze von ihm (sondern von dem US-amerikanischen Arzt und Sektengründer Cyrus "Koresh" Teed), aber als "deutscher Erstentdecker" fühlt sich Bender schon. Er heiratet die aus einer begüterten jüdischen Apothekerfamilie stammende Charlotte Asch, wird Vater eines Sohnes und einer Tochter und gründet mit der "Wormser Menschengemeinde" schon als 26jähriger seine eigene esoterische Sekte. Die propagiert neben der Hohlwelttheorie auch eine eher seltsame Sexualmoral, wonach zu einer ausgefüllten Beziehung immer vier Menschen gehören; zumindest mit 2 Frauen probiert Bender es immer wieder. Charlotte akzeptiert zeitlebens sowohl die außerehelichen Eskapaden wie auch seine abstrusen wissenschaftlich-philosophischen Erkenntnisse – die Ehefrau steht ihm stets fest zur Seite. Auch zur "erotischen Revolution des Geldes" möchte er beitragen, seine Gedanken gehen dabei in Richtung "Schwundgeld" ("Denn alles bleibt aufwiegbar gegen Geld, solange das Geld nicht mitaltert.") und folgen denen von Silvio Gesells "Freiwirtschaft" (was ja - anders als das Thema Hohlwelt - noch heute ein durchaus diskutabler Ansatz ist). Mit Horoskopen verdient er ein wenig Geld, den Hauptteil des Familieneinkommens aber steuert Charlotte mit Sprachunterricht und Übersetzungen bei. Als die Nazis die Macht an sich reißen, wird es für ihn und seine jüdische Frau schwer, seine impulsive Kritik an den sozialen Gegebenheiten bringt ihn schließlich ins KZ Mauthausen, wo er Anfang 1944 stirbt. Wenig später wird Charlotte nach Auschwitz deportiert, von wo sie nicht zurückkehrt. Die LebensGeschichte, das Ringen und den Wahn dieses begabten, aber auch verbohrten Mannes zeichnet Setz mit größtmöglicher Unbefangenheit nach. Selbst bei seinen bizarrsten GedankenExkursen wird Bender von Setz niemals lächerlich gemacht oder als Trottel dargestellt, immer schwingt ein großer Hauch menschlicher Sympathie und durchaus auch interessiertes Verständnis für den überzeugten Außenseiter mit. Etwas, das die heutige Gesellschaft, verstärkt durch Coronaleugner, Querdenker und Reichsbürger nicht mehr zu leisten bereit oder imstande ist (und da nehme ich mich keineswegs aus). So wundervolle SprachBilder wie etwa das von "drei Stunden seelenwringender Wartezeit" oder die einen zur Beurteilung seiner geistigen Gesundheit herangezogenen Amtsarzt sehr treffend beschreibende Charakterisierung: "Eine äußerst leutscheue, seelenmagere Erscheinung" tragen ihr übriges dazu bei, in Bender nicht den Verwirrten, sondern den (wenn auch auf dem falschen Weg) Suchenden, den um Möglichkeiten, um Alternativen zum Konsens Ringenden zu erkennen (und nicht zufällig dreht sich auch in den von mir hier beinahe willkürlich herangezogenen Zitaten vieles um die menschliche Seele). Bender ist ein reinkarnierter Don Quichote, ist jemand, der anders denkt als die Mehrheit und in Kopernikus oder Bruno prominente Vorgänger hat (nur dass deren Ideen sich im Nachhinein als "richtig" herausgestellt haben): "Ach, es war traurig, niemand sonst hatte so schöne Gedanken wie er. Und sie konnten nirgends hin. … Meine Gedanken, meine Gedanken! Sie verwandelten sich so schnell in Gas, man musste aufpassen." Und schließlich liegt eine besondere Qualität von Setz’ Text darin, jeden Bezug zu Tagesaktualitäten zu meiden, seine RomanBiografie des Peter Bender will neben Verständnis füreinander auch solches für Vielfalt und Optionen einfordern. Denn: "Nichts ist so frei wie Monde vor der Landung."Weitere Infos: www.suhrkamp.de/buch/clemens-j-setz-monde-vor-der-landung-t-9783518431092