(Rowohlt, 364 S., 28,00 Euro)
Das Team Meller/Michel hat mit seinen Büchern zur Himmelscheibe von Nebra zwei der erfolgreichsten Archäologiebücher der letzten Jahre verfasst und legt nun mit einem nicht minder spannenden Werk nach. Im Frühjahr 1934 wurde im Kurpark von Bad Dürrenberg (das liegt südlich von Halle/S. an der A9) eine Wasserleitung für einen Springbrunnen verlegt. Als man dabei auf menschlichen Knochen stieß, wurde ein Lehrer und Heimatkundler herbeigerufen, der die Bedeutung des Fundes erkannte und die Landesanstalt für Vorgeschichte in Halle informierte. Welch Glück! Denn die in unter hohem Zeitdruck geborgenen Knochen erwiesen sich als mittelsteinzeitlich, an den Beigaben erkannten die Hallenser Koryphäen sofort, dass es sich um einen mächtigen "Ur-Arier" handelte. Ein ebenfalls aufgetauchter Kinderschädel wurde nicht weiter erwähnt, dass man hier das "Ausgangsland aller Menschwerdung" gefunden hatte, reichte aus, passte ideologisch perfekt in die Zeit und war somit nicht zu hinterfragen. Welche Ironie, dass sich bei genaueren Untersuchungen in den 50ern herausstellte, dass die Knochen zu einer Frau gehören. Und dann bewiesen jüngere archäogenetische Analysen auch noch, dass diese als typische Vertreterin der hier vor 9000 Jahren lebenden Jäger und Sammler eher dunkelhäutig (wenngleich vermutlich blau-/grünäugig) war! Als man in Bad Dürrenberg nun den Kurpark für die LAGA 2024 umgestalten wollte, wurde beschlossen, vorher die Fundstelle aus den 1930ern nochmals genau zu untersuchen. Man barg die Grabungsstelle "im Block" und untersuchte diesen im Zentraldepot in Halle. Was sich dabei vermittels modernster technischer Methoden und gründlicher Interpretation aus den Funden herauslesen lies, ist so faszinierend und detailreich, dass man es kaum glauben mag. Anatomische Besonderheiten beweisen, dass die Frau sich selbst in eine Ohnmacht/Trance versetzen konnte und dass sie vergleichsweise wenig körperlich arbeitete – die schon länger diskutierte Theorie einer "Schamanin" fand erstmals handfeste Beweise. Die ungewöhnlich reichen Grabbeigaben - von der Maske aus Rehbock-Hörnern bis zu einem aus einem Kranichknochen gefertigten Behälter für winzige Feuerstein-Pfeilspitzen - wurden neu untersucht, auch das Skelett des Säuglings lieferte wichtige neue Erkenntnisse. Hier fehlt der Platz, alle Einsichten und Überlegungen ausführlich zu schildern, das tun Meller/Michel selbst viel besser und plastischer. Dass Sie dabei neben einer Kritik Ideologie-geleiteter Geschichtswissenschaft und tiefschürfenden Überlegungen zu Charakteristika und Ursprüngen von Schamanismus stets distanziert bleiben, allzu naheliegende ("passende") Erkenntnisse lieber zweimal hinterfragen und so sich selbst die strengsten Kritiker sind, macht das Buch besonders aufschlussreich. Und ihr Talent, die Fakten so bildhaft darzustellen, dass auch der interessierte Laie nicht den Faden verliert. Und die religions- und gesellschaftskritischen Schlußfolgerungen, die die beiden aus ihren Forschungen ableiten. Und natürlich die Geschichte der Schamanin selbst, einer Frau, die vor 9000 Jahren so anerkannt und überregional verehrt war, dass ihr Grab noch 600 Jahre später als Kultort diente (da wurden nämlich unmittelbar daneben zwei weitere (Hirsch)Masken rituell niedergelegt). Dieses Buch ist noch faszinierender als die über die Himmelscheibe – und das will wirklich etwas heißen!Weitere Infos: www.rowohlt.de/buch/harald-meller-kai-michel-das-raetsel-der-schamanin-9783498003012