´Let´s Try It Again´ ist der augenzwinkernde Name, den Neal Francis seiner neuen Tournee durch Europa gegeben hat. Nachdem die für Januar geplante Gastspielreise den Corona-Maßnahmen zum Opfer fiel und im Sommer nur ein einziger Termin hierzulande in den Terminkalender passte, gastiert der in Chicago heimische Sänger, Pianist und Songwriter nun im November an drei Abenden in unseren Breiten sowie für sieben Auftritte in BeNeLux. Im Gepäck hat er seine neue 7-Track-EP ´Sentimental Garbage´, auf der er sich wie schon auf dem vor Jahresfrist erschienenen Album ´In Plain Sight´ mit majestätischen, warmtönenden Songs weniger deutlich in der Vergangenheit zwischen klassischem Funk, Soul und R&B oder zwischen Leon Russell, Dr. John und JJ Cale positioniert als noch auf seinem viel beachteten Erstling ´Changes´.
Hierzulande mag der liebenswerte Musikverrückte noch ein gut gehütetes Geheimnis sein, bei seinem Deutschland-Konzertdebüt in der Haldern Pop Bar im vergangenen Juli unterstreicht er aber eindrucksvoll, dass er zu Höherem berufen ist. Nicht nur, dass trotz Sommerferien und Sonnenschein drangvolle Enge im Haldern-Pop-Hauptquartier herrscht und der imposante Turm aus Vintage-Keyboards, der Dreh- und Angelpunkt des Tuns von Neal Francis ist, auf der winzigen Bühne bisweilen seine drei Mitstreiter an Gitarre, Bass und Schlagzeug zu verdecken droht – vom ersten Ton an werfen sich die vier Amerikaner mit einem solchen Verve in ihre Songs, dass die Wucht Scheiben und Gläser erzittern lässt und den Raum bis in die Letzte Ritze mit Sound füllt. Berauscht von ihrer eigenen Musik verlieren sich Neal Francis und die Seinen dabei immer wieder in langen Improvisationen, ohne dass deshalb der Ohrwurmfaktor der betont eingängigen Lieder leidet. Berauscht ist auch das Publikum, ganz besonders einige Superfans, die von weiter her angereist sind und direkt vor der Bühne ordentlich viel Alarm machen und sich nach der Show verwundert fragen, warum dieses Konzert nicht in einem größeren Rahmen stattgefunden hat. Die Erklärung, die Neal Francis dafür parat hat, ist verblüffend simpel – und äußerst sympathisch und bodenständig: Wenn man in ein neues Land kommt, dann fängt man unten an und arbeitet sich hoch!Ein wenig hilft es sicherlich, dass der Amerikaner gern auf Tour ist – und dabei aus den Fehlern der Vergangenheit seine Lehren gezogen hat.
„Ich habe gelernt, beim Unterwegssein auf mich selbst aufzupassen und einfach eine Routine zu entwickeln. Ich bin jetzt 33, und das ist anders, als mit 23 auf Tour zu gehen“, verrät er im Westzeit-Interview. „Ich versuche, ein Verhalten mit viel Bewegung und Dehnung und gesunder Ernährung beizubehalten, da wir unser gesamtes Equipment selbst schleppen und aufbauen, was Anstrengung zusätzlich zu den Shows bedeutet. Ich kümmere mich also um mich selbst, um meine geistige Gesundheit, ich meditiere und rede mit Menschen. Aber ich möchte nicht, dass das falsch verstanden wird. Ich liebe es, Shows zu spielen, und ich liebe es, mit dieser Band zu spielen. Die Jungs, mit denen ich spiele, sind wie Brüder, und wir haben eine tolle Zeit."
Doch nicht nur an der Herangehensweise an seine Konzerte hat Neal Francis geschraubt. Auch beim Songwriting hat sich sein Fokus bei den neuen Liedern etwas verschoben, wenngleich inhaltlich Herzschmerz eine wichtige Inspirationsquelle bleibt.
„Ich denke, zum größten Teil hängen die Texte direkt mit Ereignissen oder Emotionen zusammen, aber ich komme nun an den Punkt, an dem ich einfach aus jeder Emotion oder jedem Moment schöpfen kann“, erklärt er. „Ich kann in meinen Erinnerungen kramen und Dinge aus meiner Vergangenheit abrufen, und das funktioniert genauso gut, als mitten im Schlamassel zu stecken, aber zum Glück ist Letzteres nicht mehr zwingend erforderlich."
Nachdem er auf seinem Debüt den Kampf mit seinen eigenen Dämonen in Songs gegossen und sich klanglich auf einen möglichst authentischen Retro-Sound eingeschossen hatte, ist auf ´In Plain Sight´ und ´Sentimental Garbage´ – beide Werke entstammen den gleichen Sessions – auch klanglich alles erlaubt, was ihm selbst gefällt. "Instrumentals, Ambient, Dance oder klassische Musik – manchmal fühlt es sich so an, als hätte ich gar nicht selbst unter Kontrolle, welche Form meine Lieder annehmen", erklärt er. Eine bewusste Entscheidung war das nur bedingt, gesteht er: „Bei ´Changes´ habe ich einen gewissermaßen manieristischen Ansatz verfolgt und versucht, bei der Produktion die Sounds der späten 60er und frühen 70er zu duplizieren, von denen ich damals gar nicht genug bekommen konnte. Dieses Mal war ich einfach offener für verschiedene Sounds, und ich denke, eine große Veränderung ist auch darauf zurückzuführen, dass ich ursprünglich vorhatte, Bläser zu engagieren. Also sprach ich mit einem Freund in Chicago, den ich als Leiter der Horn Section im Sinn hatte, aber der lehnte es wegen der Natur der Blasinstrumente sofort ab, an Sessions während der Pandemie teilzunehmen. Ich habe diese Idee dann sofort aufgegeben und mich dazu entschieden, stattdessen Synthesizer zu verwenden und mit allerhand Sounds auf verschiedenen Keyboards zu experimentieren."
Trotzdem sei am Ende noch die Frage erlaubt: Wäre Neal Francis ob seiner Faszination für die Vergangenheit gerne ein paar Jahrzehnte früher geboren?
„Es gibt Momente, in denen mir diese Frage durch den Kopf geht, aber letztlich bin ich wirklich dankbar, heute zu leben“, erwidert er. „Dafür gibt es viele Gründe, einer davon ist, dass wir so die Chance haben, auf die gesamte bisherige Musikgeschichte zurückblicken zu können, einschließlich dessen, was derzeit gemacht wird, denn derzeit entsteht meiner Meinung nach viel fantastische Musik. Ich bin genauso ein Produkt meiner Zeit wie jeder andere auch."
Aktuelles Album: Sentimental Garbage (ATO / PIAS / Rough Trade) VÖ 18.11.
Weitere Infos: www.nealfrancis.com Foto: Liina Raud