Shantel ist seit Jahren auf das Heben von Klangschätzen spezialisiert. Er war und ist auf der Suche nach Charakteren, Typen oder Orten, an denen klanglich wirklich etwas passiert. Oft auf dem Hintergrund von familiären Geflechten. So ist sein Kontakt und seine Begeisterung für rumänischen Karpaten-Punk dadurch zu erklären, dass seine Großeltern mütterlicherseits aus der Bukowina stammen. Sie lebten in Czernowitz. Auch seine aktuelle Veröffentlichung ´Viva Diaspora´, die vom Klangkosmos Griechenlands inspiriert ist, ist von familiären Verbandelungen geprägt. Sein Großvater väterlicherseits ist Grieche, einer der ersten so genannten Gastarbeiter in Deutschland.
Griechenland aus einer anderenPerspektive
Shantel begleitet in frühester Jugend seinen Großvater fast jeden Sommer in seine alte Heimat.
„Während der langen Reise wird natürlich auch Musik gehört“, erinnert sich der Frankfurter Musiker, „meistens traditionelle griechische Musik oder Musik aus Smyrna.“
So hat das Land, das heute von einer Diskussion in die andere fällt, schon früh aus einer ganz anderen Perspektive erlebt und eine starke Bindung aufgebaut. Eine so starke, dass sie eine lange Zeit überdauert und inzwischen dazu geführt hat, dass Shantel seit mehr als zwei Jahren eine Wohnung in Athen hat.
„Einerseits kann man dort sehr gut arbeiten und leben. Doch so wie ich gestrickt bin, suchte ich dort natürlich Kontakt zu Musikern und Produzenten“, sagt er, „zudem missfiel mir, dass im Zuge des ganzen Krisengeredes immer über die Griechen geredet wird, kaum aber mit ihnen.“
Bei seinen Recherchen vor Ort stößt Shantel auf junge, kreativhungrige Musiker und alte Studios.
„Eins davon das Sierra Recordings Studio erinnerte mich sofort an meine Arbeit am Album ‚Anarchy&Romance’, das ich in den Berliner Hansastudios aufnahm. Analoges Equipment, so weit das Auge reicht. Und die Räume versprühen den Geist von Demis Roussos, Nana Mouskouri, Vangelis Papathanassiou oder Omar Faruk Tekbilek, die dort aufgenommen haben.“
Doch so spannend diese Musiker auch sein mögen, das Anliegen von Shantel war nie, reine Traditionspflege zu betreiben.
„Ich will mit der Musik, die ich schon als Kind faszinierend fand, spielen. Etwas mir ihr anstellen, so wie ich es mit den Klängen aus der Bukowina auch gemacht habe“, fährt er fort, „ich möchte Underground, Musikgeschichte und auch Sozialgeschichte zusammen bringen, um sie mit kreativer Energie zu verwirbeln.“
Gute Musik in schlechten Zeiten
Im Athener Studio versammelt Shantel Scharen von Musiker, die nicht nur alle wichtigen griechischen traditionellen Instrumente spielen, sondern auch die der osmanischen Musiktradition. Und an diesem Punkt kommt das oben bereits genannte Smyrna wieder ins Spiel. Und mit Smyrna der bluesige Rembetiko, jener Klangkosmos, der von den so genannten Rembetes gespielt wurde. Das sind griechische Flüchtlinge, die im Jahr 1922 aus Klein-Asien vertrieben wurden. Orientalische Skalen und Harmonien von dort prägen den Rembetiko und seine schmachtende Melancholie. Seine Texte sind vulgär, sozialkritisch und häufig drogenverherrlichend. Junge griechische Künstler wie Imam Baildi oder die Sängerin Areti Ketime sind exakt die richtigen Partner, um Shantels Wissbegier in Sachen Smyrna-Sound zu befriedigen und seinen Prozess der Transformation dieser Noten in etwas ganz Neues zu befeuern.
„Dabei findet unsere künstlerische Begegnung absolut auf Augenhöhe statt“, stellt Shantel mit größtem Nachdruck fest, „hier geht es nie um kreative Ausbeutung. Ich funktioniere dabei eher, wie ein Teilchenbeschleuniger, der die analogen und digitalen, traditionellen und avantgardistischen Klänge auf ein Vielfaches ihrer eigenen Ruheenergie beschleunigt, um im Bild zu bleiben.“
Auch mit ´Viva Diaspora´ verstört Shantel vermutlich wieder die Erwartungen des Publikums.
„Aber das ist gut so“, lässt er wissen, „ich will ja nicht zur Musikbox verkommen, in die jeder 50 Cent wirft und das Stück, dass er sich wünscht, auch sofort erklingt.“
Und auch ein Ausspruch, den Shantel früher einmal tat, passt wie die Faust aufs Auge zum aktuellen Album.
„Mir geht es um ein generelles, kritisches Lebensgefühl, losgelöst von Genres oder Stilen. Es hat nichts mit Fashion, Hype oder Hipness zu tun. Es ist sentimental aber dennoch auch ein Blick in die musikalische Zukunft.“
Wer sich aber einen freien Geist bewahrt hat und neugierig geblieben ist, der wird auch von Shantels neuester kreativer Kaperfahrt begeistert sein. Denn wieder ist Shantel angetreten, der Endlosschleife des Mainstream etwas entgegen zu setzen. Ausgerüstet mit Drumcomputer und seiner Fender Mustang E- Gitarre bringt der erfahrene Klangvermischer die griechisch-orientalischen Klangmuster als Tanzbeinanimierer in die Clubs auf der ganzen Welt. Und erschafft so ganz nebenbei nicht nur gute Musik in schlechten Zeiten, sondern auch gute Musik für schlechte Zeiten.
Aktuelles Album: Viva Diaspora (Essay Recordings / Indigo)
Foto: Matthias Hornbauer