Lange halten es die Ingolstädter in diesem Musikzirkus schon aus. Weit über ein Jahrzehnt sind sie dabei - auch ohne mittendrin herumzuturnen und den penetranten Businesskasper zu spielen. Slut waren immer etwas weiter draußen, wo sie ihr eigenes Theater inszenierten. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Sänger Chris Neuburger und Bassist Gerd Rosenacker noch verhältnismäßig gesund ausschauen. Bei genauerem Hinsehen und Zuhören fällt sogar auf, dass beide beim Erzählen hin und wieder überschäumen: vor jugendlich ungestümer Freude. Es wirkt fast schon so, als hätten Slut sich mit ihrem neuen Album „Still No1“ nochmals frei gemacht und eigenhändig entjungfert. Welch ein befreiender Akt!
Intellektuell introvertiert und dörflich höflich sind sie, sehen allesamt ähnlich unauffällig aus und scheren sich einen feuchten Kehricht um Rock´n´Roll-Verhaltensstandards: Die Ingolstädter Vorzeigerockbuben Slut sind angeblich schon seit 1995 so und nicht anders. Mag sein. Wenn an all den vorverurteilenden Unwichtigkeiten etwas dran ist, dann der Umstand mit dem Kehricht. Diese Band hält nicht viel von dem, was gespielt, spekuliert oder prophezeit wird. Slut wissen selbst nur allzu gut, wo sie stehen, was sie an sich haben und für sich wollen. Ein Wissen, das auf Erfahrung fußt. Nostalgisch, aber völlig wertfrei, schauen sie heute zurück in Richtung „Sticksister“, die kleine Abteilung vom damals noch in Nürnberg ansässigen Motorpsycho-Label „Stickman“. Dort begann ihr unorthodoxer Weg und nahm seine gesunde Entwicklung. Peau à peau ging es stetig und bei größtmöglichem Bewusstsein durch Höhen und Tiefen. Die große Glocke stand ihnen nie gut zu Gesicht, auch nicht zu viel versprechenden Majorzeiten. Was dieser Band aber immer schon gut zu Gesicht stand, war die am Boden haftende, unprätentiöse Authentizität. Genau diese erlaubt es ihnen auch, an Promotagen frank und frei zu benennen, welche Blätter und Schmiertypen sie seit Jahren schon nicht leiden können. Slut dürfen das, denn sie wissen, wovon sie sprechen. Slut wissen bekanntlich eh recht viel. Viel mehr, als sie erzählen und auch weitaus mehr, als so manch einer denkt. Aber deshalb sind sie noch längst keine provinziellen Schlaumeier, sondern einfach nur eine Band, die offenen Auges durch den Musiktheaterzirkus und seine Irrungen, Wirrungen und Faszinationen zieht.Von Irrungen und Wirrungen ist man aber selbst nach vielen Jahren Bandgeschichte nicht gefeit. Vier Jahre nach ihrem letzten Studioalbum „All We Need Is Silence“ und dem turbulenten Ausflug in die Welt des Theaters standen sie förmlich mit dem linken Fuß wieder auf: Die Idee, mit zwei Personen an die Produktion eines neuen Albums heranzugehen, war eine dumme, das wissen Slut nun ganz genau. Tobias Levin und Olaf Opal bildeten anfangs das Duo, das für sich eine Vision für die Band ausbaldowert hatte. Aber die Sache hatte einen Haken, der diese doppelte Ideenblase wieder platzen ließ, denn Visionen waren nicht vonnöten.
„Wir brauchten eigentlich nur einen klassischen Betreuer und keinen Trainer“, stellt Gerd mit Nachdruck klar. „Denn wir wollten innerhalb unseres Rahmens Dinge aufgezeigt bekommen, die uns helfen und weiterführen. Aber wir wollten nicht andere Rahmen übergestülpt bekommen. Wir wussten ja, wo es hingehen sollte und welch starke Persönlichkeiten unsere Lieder bereits waren.“
Und zu viele Egos können irgendwann auch die stärksten Persönlichkeiten verbiegen, umkrempeln oder gar verderben. Bevor dies geschehen konnte, machten Slut aber Schluss, bevor alles anfing. Die Neuorientierung führte sie zu demjenigen, der die Band und ihre musikalischen Persönlichkeiten verstand. Der gesuchte Betreuer saß förmlich bei den Trainern auf der Bank: Oliver Zülch, damals noch Engineer von Olaf Opal, hatte das ganze fünftägige Ego-Szenario stillschweigend beobachtet, erzählt Gerd:
„Wenn Opal und Levin über den tieferen Sinn eines C Major-Akkords im Zusammenhang auf die Sozialkritik in der Bundesrepublik Deutschland diskutiert haben, hat Oliver irgendwann gefragt: Wollen wir das Zeug nicht einfach mal aufnehmen? Und da haben wir gemerkt: Das ist unser Mann.“
Zülch hatte also verstanden. Er hatte verstanden, was Slut waren und wollten. Und weil er verstand, vertrauten sie ihm. Er schlug Kreuzberg vor und die Band folgte. Im „Studio Wong“ wurde keiner High End-Ausstattung nachgetrauert, sondern nur nächtelang gespielt.
„Letztendlich war es nämlich so, dass alles schon reif war und nur noch geerntet werden musste. Wir - oder besser die Lieder - wussten ja, wo sie hingehören. Es war alles fertig und musste nur an seinen dafür vorgesehenen Platz. Wir brauchten niemanden, der etwas deutet, der Regie führt oder alles nochmals auseinanderpflückt - wir brauchten jemanden, der all das nur noch einfängt. Und das war Olli. Er hat uns bei all dem wirklich beflügelt, auch weil er zurückhaltend und hemdsärmelig zugleich vorging.“
Eine Entscheidung, die sich in der Retrospektive nochmals als die richtige herausstellt, wie Chris unterstreicht:
„Bei der Produzenten-Duo-Idee wäre vermutlich mehr diskutiert als musiziert worden. Ganz sicher sogar. Und auf Diskurspop hatten wir eben keine Lust.“
Diese Unlust ist nicht nur Resultat dessen, dass Slut sich intensivst mit Theatermusik auseinandergesetzt haben, sondern rührt auch daher, dass sie sich gezielt ganz viel Musik aus verschiedenen Sparten und Ecken angehört haben. Musik, an die sie sich früher nicht gewagt hätten, weil sie nicht gefiel, weil man sie nicht verstand oder weil man frei von Einflüssen sein wollte, so Chris:
„Bei der Platte davor haben wir teilweise vermieden, Musik zu hören, weil wir dachten, dass man das Zeug immer nur aus sich selbst herauszerren müsste. Das war eigentlich ein großer Irrtum, denn man kann gar nicht voll genug sein, um irgendetwas Neues herauszulassen. Allein der Frage nachzugehen, was irgendjemand an diesem oder jenem Schrott gut findet, bringt einen musikalisch weiter.“
Das ist dieser Slut'sche Entdeckergeist, der sie auch damals ins Theater gelockt haben muss. Anfänglich standen sie nahezu ohnmächtig zwischen Respekt und Unverständnis vor dieser Musik, bis die Auseinandersetzung mit diesem Koloss das Eis zum Schmelzen brachte. Und plötzlich wurde aus dem Monstrum eine Perspektive und aus der Anstrengung der eigenen Öffnung eine erlösende Erweiterung.
„Das Ganze war damals wie ein Berg, den wir zu erklimmen hatten. Aber dahinter eröffnete sich eine immense Weite, in der es noch viel zu entdecken gab. Und das war sehr wichtig - für uns und auch für unser neues Album...“
„Das ist“, fällt Chris Gerd ins Wort, „eben das Gute an riesigen Bergen: ihre extreme Weitsicht.“
Aus dieser Weitsicht heraus wusste die Band zwar, was hinter ihr lag, hatte aber noch keine Ahnung, was ihr mit einem neuen Album bevorstand - sie wusste nur, dass der Raum, der sich vor ihr auftat, größer war als je zuvor. Und diesen haben Slut nun mit allem gefüllt, was ihnen in den Sinn kam. Konträr zu weniger ist mehr handelten sie sich Berge von Ideen ein und loteten alles in jegliche Richtungen bis an ihre eigenen Schmerzgrenzen aus.
„Es war uns ein Genuss, alles was wir vermeintlich wussten, über Bord zu schmeißen“, schwärmt Chris, was Gerd nur bestätigen kann: „Oh ja, und zudem war es auch äußerst gesund. Es kann nämlich furchtbar viel Spaß machen, auf bewährte Mechanismen nicht zurückgreifen zu müssen. Ein neu erlerntes Handwerk ermöglicht immer eine neue Perspektive. Das hat wirklich furchtbar viel Spaß gemacht!“
Aber es hatte sich über die vier vergangenen Jahre auch so einiges angesammelt und aufgestaut. Diverse Instrumente und Freizügigkeiten haben Slut nun aus dem Theaterfundus mitgebracht und in ihren Proberaum gepflanzt. Vielschichtig und vielseitig, persönlich und orchestral, elegisch und pointiert, euphorisch und essentiell - so frank und frei klingt diese Band auf ihrem sechsten Album, das im Grunde genommen fertig war, bevor es mit jugendlicher Freude und seinen inhärenten Visionen aufgenommen wurde. Die reinste Jungfräulichkeit, trotz all der Jahre im Musiktheaterzirkus.
Aktuelles Album: Still No 1 (Virgin / EMI)
Foto: Gerald von Foris