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NICHTSEATTLE

Unvergleichlich

NICHTSEATTLE

Ehrlich, unverstellt, echt: Mit ´Haus´, dem dritten Album ihres Projekts Nichtseattle, liefert Katharina Kollmann nicht mehr und nicht weniger als ein hochemotionales Meisterwerk ab. Gehüllt in oft wunderbar unaufgeregten, zeitlos schönen Indierock mit sanftem Folk-Touch, der genauso ohne Effekthascherei auskommt wie ihre Texte, fängt sie in den zwölf hinreißend guten Songs der Platte die Poesie des Alltags so perfekt ein wie hierzulande praktisch niemand sonst.

Auf ihren ersten beiden Platten – ´Wendekid´ (2019) und ´Kommunistenlibido´ (2022) – verwiesen allein schon die Titel auf Kollmanns Ost-Berliner Herkunft, mit ´Haus´ entfernt sie sich nun ein Stück weit von der Thematik und schlägt inhaltlich einen merklich weiteren Bogen.

"Ich denke, dass ich einige dieser Themen ein bisschen durchgearbeitet habe", erklärt sie die inhaltliche Neuorientierung im Gespräch mit der WESTZEIT. "Dieses Ost-Thema kam halt irgendwie auf, weil es total lange gar nicht so eine Rolle gespielt hat – man hat zumindest nicht darüber gesprochen, über die Wende und so, jedenfalls nicht so, wie das alle gebraucht hätten. Das kam irgendwann ganz doll hoch, und dann habe ich angefangen, mich mit dem Thema emotional zu beschäftigen und darüber zu schreiben. Mittlerweile gibt es aber viele andere Einflüsse, die mich beschäftigen, deshalb ist das Thema jetzt nicht mehr so dringlich. Ein bisschen möchte ich mich davon gerade auch distanzieren, weil sich der Osten in den letzten Jahren so… blöd zeigt!"

Auf ´Haus´ rückt die 39-jährige Musikerin stattdessen ihre Gedanken zu Vereinzelung, Unsicherheit und Prekarität, aber auch die damit verbundene Suche nach einem Zuhause, die schon im Albumtitel anklingt, in den Fokus. Alle zwölf Songs tragen Untertitel, die auf verschiedenste Arten von Behausungen verweisen – von der Eigentumswohnung über den Proberaum und das Zelt bis hin zum Fahrgastunterstand –, doch am Ende sind es weniger die Bauwerke als deren Bewohnerinnen und Bewohner, denen Kollmann in den gesellschaftlichen und milieubezogenen Psychogrammen ihrer Texte die größte Beachtung schenkt und dabei keine Mühe hat, auch komplizierte Sachverhalte mit solch spielerischer Leichtigkeit zu transportieren, dass man bisweilen das Gefühl hat, ihr würden die Textzeilen einfach spontan aus dem Mund purzeln.

Tatsächlich liegt Kollmann die Idee, so zu schreiben, wie sie auch redet, am Herzen.

"Meine Gedanken sind wie gesprochene Sprache und so will ich das auch aufschreiben", erklärt sie. Auch wenn sie ihre Texte natürlich editiert und auch mal länger nach den richtigen Wörtern sucht, um bestimmte Dinge zu beschreiben, nutzt sie auch gerne Füllwörter, um die Ideen in ihrem Kopf so unmittelbar wie möglich auszudrücken und so eine beeindruckend direkte Verbindung und eine bemerkenswerte Nähe zu ihren Hörerinnen und Hörern herzustellen.

Vielleicht auch deshalb fällt es Kollmann leicht, das Publikum vom ersten Ton, von der ersten Zeile an zu fesseln, obwohl ihre Songs eigentlich alle jenseits gängiger Längen für Popmusik landen und oft erst nach sechs oder sieben wortlastigen Minuten enden. Ihre Lieder seien keine oberflächlichen Ansichtspostkarten, sondern eher abendfüllende Diavorträge, hatte es bereits zum letzten Nichtseattle-Album geheißen, doch diese Beschreibung trifft auch auf ´Haus´ zu. Dass sie damit gegen alle gängigen Trends von Formatradio und Streaming-Plattformen schwimmt, ist Kollmann natürlich bewusst.

"Ich habe auch schon mal gedacht: Vielleicht geht es ja doch mal kürzer", gesteht sie und muss lachen. "Bis jetzt ist es aber eher so, dass ich die Zeit brauche. Wenn ich anfange, über ein Thema zu schreiben, öffnet sich sehr viel, und dann kommen viele Worte und Bilder hoch, die alle auch gehört werden wollen, und da kann ich nicht gut kürzen."

Der emotionale Impact ihrer Lieder gibt ihr recht: In ihren Songs findet Kollmann nicht nur zu einer eigenständigen Ausdrucksweise, sie gelangt in der Rolle der klugen Beobachterin auch immer wieder von betont persönlichen Gedanken zu universellen Wahrheiten, knüpft Verbindungen von der Abstraktheit des großen sozialen Gefüges zu den realen Konsequenzen in unser aller Leben. Dennoch ist es ihr wichtig, sich beim Schreiben von dem Gedanken zu emanzipieren, dass ihre Musik inzwischen von einem stetig wachsenden Publikum gehört wird.

"Ich will beim Songwriting ganz autark sein", sagt sie bestimmt. "Ich glaube, durch das ganz freie Schreiben kommt man viel eher an die universellen Themen, die ja auf der ganz tiefen Ebene sowieso alle verwandt sind."

Wenngleich ihr Songwriting auch auf ´Haus´ stets hochsensibel ist, sind viele der neuen Lieder textlich, aber nicht zuletzt auch klanglich deutlich versöhnlicher und wenig einsam – das sieht auch Kollmann selbst so. Ein Stück weit ist das für sie das Resultat eines Heilungsprozesses, denn das Songschreiben hat ihr nicht nur die Gelegenheit gegeben, sich mit vielen zuvor unverarbeiteten Themen zu beschäftigten, um die Musik herum hat sich auch viel sozial entwickelt, und das ist auf der Platte spürbar, denn auch klanglich ist die Band gewachsen.

Den Sound von Nichtseattle beschreibt Kollmann derweil als "Summe aus vielen kleinen sehr intuitiven Geschmacks- und Gefühlsentscheidungen". Das gerade in letzter Zeit etwas inflationär bemühte Schlagwort "Authentizität" benutzt sie zwar nur ungern, der Verzicht auf elektronisches Beiwerk und die Konzentration auf analoge, naturbelassene Klangfarben ist am Ende aber doch auch der Suche nach eben dieser Authentizität geschuldet. Hatten auf den beiden Vorgängerwerken noch die solistischen Songs dominiert, lenkt Kollmann ihre Band auf dem deutlich weitreichender orchestrierten neuen Album mit ihren unverkennbaren Bariton-Gitarrenriffs durch einen wunderbar entschlackten, vom Folk geküssten Indierock, der bisweilen an die Eigentümlichkeit von PJ Harvey, die Eleganz von Death Cab For Cutie oder die emotionale Wucht von Nirvana erinnert und spätestens dann, wenn die Bläser ins Spiel kommen, eine ganz besondere Note erhält. Am Ende sind diese ungemein ausdrucksstarken, zum Heulen schönen Songs aber vor allem eines: unvergleichlich gut.

Aktuelles Album: Haus (Staatsakt / Bertus / Zebralution) VÖ 12.04.


Weitere Infos: www.instagram.com/nichtseattle Foto: Sascha Schlegel


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