Mit ihrem fabelhaften Debütalbum ´Grown Up´ kommt Singer/Songwriterin Mina Richman genau zur richtigen Zeit. Jung, queer und selbstbestimmt nimmt die 25-jährige Deutsch-Iranerin mit ihren Songs kein Blatt vor den Mund und trifft damit, ohne sich verbiegen zu müssen, den Nerv der Zeit. In bemerkenswert facettenreichen Songs, mit denen sie Indie-Pop, Soul und bisweilen sogar Blues und Hip-Hop streift, schlägt sie einen Bogen vom Privaten zum Politischen und findet so mit spielerischer Leichtigkeit den Sweetspot zwischen Selbstreflexion und Empowerment.
Es gibt erste Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern, die man nicht so schnell vergisst. Das Konzert von Mina Richman im Düsseldorfer FFT vor Jahresfrist war so ein Fall, denn bei dem nach einem plötzlichen Todesfall im engsten Umfeld ihrer Band emotional aufgeladenen, aber dennoch wunderbar ungezwungenen Auftritt gelang es der jungen Singer/Songwriterin, Pop, Verschrobenheit und Köpfchen brillant zu vereinen und von den brisanten Themen (nicht nur) ihrer Generation zum alltäglichen Wahnsinn ihres eigenen Lebens als junge Frau vorzustoßen. Dabei ließ sie ihre klugen und trotz viel inhaltlicher Tiefe immer auch wieder herrlich amüsanten Gedanken auf eine Art und Weise in ultra-eingängige Songs fließen, die geschickt mit allerhand Versatzstücken jonglieren und deshalb sofort vertraut klangen, obwohl sie gerade hierzulande praktisch referenzlos sind.Tatsächlich bestechen Minas Konzerte durch eine schwer in Worte zu fassende Melange aus Herzlichkeit, Verwundbarkeit und Humor, da sie zwischen den Songs oft ihre helle Freude daran hat, sich mit ausufernden Ansagen um Kopf und Kragen zu reden, bis man am Ende des Abends das Gefühl hat, eine mehrbändige Biografie über sie verfassen zu können, ganz egal, ob es um die Karrierepläne ihres Vaters für sie geht (Kardiologin konnte sie leider nicht werden, weil sie kein Blut sehen kann!), um ihren Weg zur Einser-Schülerin, die mehr Freunde und Freundinnen in der Lehrerschaft als unter Gleichaltrigen hatte, um die schlechte Erreichbarkeit von Therapeuten oder um die ungewöhnlich "ästhetische" IBAN-Nummer ihres Bankkontos: "Anekdoten aus dem Alltag einer Lehramtsstudentin ohne Impulskontrolle", wie es an anderer Stelle bereits so treffend hieß.
Die Musik beschäftigt Mina schon ihr ganzes Leben lang. Sind es anfangs noch der Schulchor oder ihre Begeisterung für Pink, die sie zum Gesang treiben, vermittelt ihr später ihre Gesangslehrerin erste Auftritte in einer Coverband, die Songs von Led Zeppelin, ZZ Top oder Janis Joplin spielt. Dann kommt die Pandemie, und das gibt Mina nicht nur die Zeit, ihren Bachelorabschluss (Englisch und Philosophie auf Lehramt) zu machen, sondern mit der Gitarre oder Ukulele in Händen den Sprung vom Covern zum Schreiben eigener Lieder zu finden, die ihre Liebe zu Künstlerinnen wie Nina Simone oder Joan Wasser (alias Joan As Police Woman) widerspiegeln. 2022 veröffentlicht sie dann ihre erste eigene EP, ´Jaywalker´, mit der sie gleich viel Staub aufwirbelt und sich plötzlich bei renommierten Festivals neben etablierten Größen wie Alice Merton oder Anna Calvi auf der Bühne wiederfindet. Auch sonst nutzt sie jede erdenkliche Chance, um live aufzutreten. Dass sich direkt an die Veröffentlichung ihres Mitte März endlich erscheinenden Album-Erstlings ´Grown Up´ eine weitere ausgiebige Tournee mit ihrer Band anschließt, ist deshalb kaum eine Erwähnung wert.
Doch auch wenn Mina in kurzer Zeit schon sehr viel erreicht hat, ist sie bei den Aufnahmen zu ihrem Album glücklicherweise nicht der Versuchung erlegen, eine Abkürzung in Richtung Kommerz zu nehmen und sich blindlings und fremdbestimmt den Gesetzen der modernen Musikindustrie unterzuordnen. Stattdessen veröffentlicht sie lieber weiterhin beim Connaisseur-Label Ladies & Ladys, arbeitet beim Booking mit der kleinen, aber feinen Agentur Amadis zusammen und setzt abseits dessen vor allem auf Eigeninitiative und DIY-Spirit, zumal ein kleiner Schuljob ihr auch ein Stück weit den finanziellen Druck nimmt und die Möglichkeit gibt, auf den Prozess zu vertrauen, anstatt in Panik zu verfallen.
"Eine Coaching-Agentur, ein Management oder ein Majorlabel würden vielleicht sagen: 'Drop everything und mach zehn TikToks am Tag, du musst jetzt viral gehen!', aber da denke ich nur: 'Ja, aber das Leben ist so viel größer als der nächste Hit!'", sagt sie beim Treffen mit der WESTZEIT in Bielefeld, wo sie seit einigen Jahren lebt.
"Außerdem sind menschliche Begegnungen immer schon das Größte für mich gewesen – deshalb auch die vielen Konzerte. Wir haben nicht Millionen Streams, aber ich stehe lieber vor 50 Leuten auf der Bühne und quatsche danach noch mit allen, als 500.000 Streams auf Spotify zu sehen, aber dafür nur fünf Konzerte im Jahr zu spielen."
Doch obwohl Mina beim Musikmachen nicht bewusst auf den Mainstream schielt und authentischen Ausdruck über die Anforderungen des Formatradios stellt, will natürlich auch sie den nächsten Schritt machen. Diente ihr für ´Jaywalker´ noch klassisches Singer/Songwriter-Terrain als Sprungbrett, hat sie inzwischen viel ausprobiert und gemeinsam mit ihren Band-Mitstreitern, dem Gitarristen Friedrich "Freddy" Schnorr von Carolsfeld, dem Bassisten Alex Mau und dem Schlagzeuger Leon Brames, an der klanglichen Ausrichtung geschraubt, was sie am Ende zu einem beeindruckenden "Anything goes"-Ansatz geführt hat. Mit den Songs ihres von Tausendsassa Tobias Siebert (Mastermind von Klez.E und Produzent für Juli, Lyschko, Phillip Boa oder Enno Bunger) mit viel Raffinesse in Szene gesetzten Full-Length-Debüts treibt sie nun ihre künstlerische Weiterentwicklung organisch voran. Das Resultat ist eine faszinierend abwechslungsreiche Platte, die schon jetzt zu den schönsten, nein, besten Indie-Alben des Jahres gezählt werden darf.
Weil für Mina das Erwachsenwerden, das für die LP den thematischen Rahmen liefert, kein einheitlicher Prozess ist, war es für sie nur natürlich, sich für das Album musikalisch alle erdenklichen Freiheiten zu nehmen und klanglich all das abzubilden, was sie auch als Hörerin begeistert. Mit Erfolg, denn zwischen dem einschmeichelnd-souligen Vintage-Vibe des Indie-Pop-Ohrwurms ´Nearly To The End´ gleich zu Beginn und der nachdenklichen Piano-Ballade ´The Woman I Am Now´ zum Schluss fallen selbst die seltsam altmodisch anmutende Crooner-Nummer ´Referee´, der Rap-Flow des Titelstücks oder die bluesige Tiefgründigkeit von ´Too Young´ nicht aus dem Rahmen.
"Ich möchte keine Kompromisse machen", erklärt Mina ihren Ansatz. "Ich möchte meine Musik nicht so klingen lassen, dass sie besser ankommt – das finde ich unehrlich. Ich will keine Sängerin sein, die den Trend mitläuft, der gerade groß ist, weil irgendjemand gesagt hat: 'So, Neue Neue Deutsche Welle, hier ist dein Produzent, bitte rotzig, bitte frech, und hast du schon mal über einen Vokuhila nachgedacht?' Ich möchte niemandem etwas vorspielen oder versuchen, ein Bild aufrechtzuerhalten, was einfach nicht da ist. Das mag ich auch als Zuhörerin nicht. Ich möchte das Gefühl haben, dass mir die Person die Wahrheit sagt!"
In der Tat ist für Mina die hemmungslose Ehrlichkeit, mit der sie sich dem Musikmachen nähert, kein klug gewählter Kunstgriff, sondern vielmehr Ausdruck ihrer Persönlichkeit.
"Ich war schon immer eher Team Oversharing", verrät sie. "Auch im Privatleben habe ich immer meine Karten offengelegt, denn irgendwann habe ich gemerkt: Wenn ich meine Unsicherheiten als meine Ängste und meine Wahrheiten ausspreche, dann ist die Macht bei mir. Ich genieße es, mir so tief in die Karten schauen zu lassen und auf der Bühne manchmal auch Sachen zu sagen, die vulnerabel sind, oder auch in meinen Songs sehr viel Vulnerabilität zu verarbeiten. Wenn mich die Leute dann mögen, dann, weil sie mich wirklich, wirklich kennen!"
Minas Texte kreisen deshalb um Themen, die ihr selbst wichtig sind, denn wie schon der große US-Songwriter Darrell Scott wusste:
"Je persönlicher das Songwriting ist, desto universeller wird es."
Mit den Herausforderungen des Erwachsenwerdens als Richtschnur geht es auf ´Grown Up´ um prägende Erfahrungen aus der Kindheit, um kulturelle Entwurzelung und den gesellschaftlichen wie auch den persönlichen Umgang mit dem weiblichen Körper. Anders als viele ihrer Peers, die vor allem auf die therapeutische Wirkung des Songwritings abzielen, steht für Mina der Aspekt der Selbstfindung im Mittelpunkt, oder wie sie es in einem Interview mit den Kollegen von Sounds And Books so treffend zusammenfasste:
"Ich denke, die Therapie passiert bei mir meist vor dem Song. Ich denke sehr viel nach, und ich glaube auch, dass dann viel Verarbeitung drinsteckt. Ich benutze Songs auch, um da meine Gefühle reinzupacken und sie so sicher zu machen. Aber viele Songs sind entstanden aus einem Gefühl heraus, dass ich meinen Frieden zwar schon gefunden habe – aber es noch viel mehr geben wird."
Weil sie überzeugt ist, dass sie als queere Frau mit Migrationshintergrund gar kein apolitisches Leben führen kann, ist sie abseits der Musik als Aktivistin engagiert, findet aber auch mit ihren Liedern immer wieder vom Persönlichen zum Politischen. So ist ´Song Of Consent´ ihre wütende Hymne für sexuelle Selbstbestimmung, die mit klarer Botschaft ("You may have me but you must ask me! And if I tell you no, respect that that means no!”) und unwiderstehlichem Groove besticht, und mit ´Baba Said´ reagiert sie auf den gewaltsamen Tod der Iranerin Jina Mahsa Amini und bringt damit ihre Gefühle zur gegenwärtigen Revolution im Heimatland ihres Vaters poetisch und höchst emotional auf den Punkt. Das Lied spielt Mina allein auf der Ukulele, und wie schon bei ihren Konzerten ist es auch auf ´Grown Up´ das intensive, ergreifende Herzstück. Trotzdem war auch Mina selbst von dem großen Echo überrascht, das die Nummer bei ihrer Erstveröffentlichung auf Instagram vor knapp anderthalb Jahren ausgelöst hat.
"Ich hätte nie damit gerechnet!", gesteht sie. "Ich hatte gehofft, dass meine Familie im Iran das sieht, dass die Leute, die vor Ort kämpfen, das vielleicht sehen und merken: 'Ah, Leute auf der anderen Seite der Welt denken an uns!' Meine Hoffnung war, dass der Song Menschen Mut schenken kann, die es brauchen, aber ich hätte doch im Leben nicht daran gedacht, dass sich das Video über eine Million Menschen anschauen! Mir war es einfach wichtig, als Deutsch-Iranerin, aber dennoch Iranerin, die hier in Deutschland superfrei und ultra-privilegiert leben kann, meinen Beitrag zu leisten."
Die Reaktion auf ihr Lied hat Mina auch vor Augen geführt, welch besondere Wirkung von Musik ausgehen kann.
"Ich glaube, Musik kann Gedanken zu Menschen transportieren, die sie im gesprochenen Wort nicht hören wollen", sagt sie. "Ich würde zwar bei Weitem nicht behaupten, dass ich die Welt retten werde mit einem Song, den ich schreibe, aber ich habe bei ´Baba Said´ erlebt, dass viele Leute den Song geteilt haben, die sonst nichts zum Iran geteilt haben. Susan Sarandon hat ihn geteilt und dann am nächsten Tag ein Standard-tanzendes Paar! Aber wenn dadurch nur eine Person erfahren hat, dass im Iran gerade was los ist, und eine Petition unterschrieben hat, dann ist das eine Stimme mehr für die richtige Seite. Ich denke, Musik hat schon immer die Welt verändert und verbessert, sei es Tracy Chapman, sei es Bob Marley, sei es Bob Dylan – oder mein Mini-Beitrag mit ´Baba Said´. Musik hat einfach eine andere Art von Macht. Parolen zu singen ist viel stärker, als sie zu rufen!"
Aktuelles Album Grown Up (Ladies & Ladys / Windig / Cargo) VÖ 15.03.
Weitere Infos: www.minarichman.de Foto: Jan Haller