Schon mit 11 Jahren begann Issy Ferris dereinst Gitarre zu spielen und aufzutreten. Über eine Reihe von Open Mic-Wettbewerben, TV-Castings und die üblichen geposteten Coverversionen verfeinerte sie ihre musikalischen Fähigkeiten und hatte sich schon damit abgefunden, sich als Live-Performerin auf die Ochsentour durch die Londoner Clubs zu begeben, als sie 2016 auf den Blues-Rocker Archie Sylvester traf, der mit seinem Trio-Projekt 2014 bereits das Album „Surreptitious“ veröffentlicht hatte und – wie Issy – im Londoner Live-Zirkus unterwegs war. Der Funke, der bei diesem Treffen dann offensichtlich übersprang führte dazu, dass Ferris & Sylvester seither gemeinsam als Songwriter - und inzwischen auch als Eheleute und Elternunterwegs sind. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des gefeierten Debüt-Albums „Superhuman“ erscheint nun bereits das zweite Werk „Otherness“.
Die Songs des neuen Albums entstanden dabei vor und während einer US-Tour im Rahmen derer dann auch Issy's und Archie's Sohn geboren wurde, so dass das britische Paar nun einen amerikanischen Sohn hat.„Also tatsächlich hatten wir eine Menge Songs schon vor dieser Tour geschrieben“, führt Issy aus, „allerdings hatten wir dann dieses verrückte Erlebnis mit der Geburt unseres Sohnes, der 6,5 Wochen vor dem errechneten Zeitpunkt geboren wurde. Als wir uns dann daran machten, das Album zusammenzustellen, realisierten wir, dass uns das wieder mit dieser Erfahrung zusammenbrachte. Das war insofern recht seltsam, als dass sich ein paar der Themen, die wir auf dem Album ansprechen – etwa das Außenseitertum am Ende der Welt – sich wie Prophezeiungen anfühlten."
„Ja, das war gerade so, als hätten wir das Ereignis vorhergesehen“, ergänzt Archie.
Was inspiriert Issy und Archie denn so inhaltlich? Das neue Material fällt ja vor allem dadurch auf, dass hier einige doch eher düstere, ernsthafte Themen angesprochen werden. Gleich der erste Track „Dark Side“ macht das schon deutlich – doch das ist erst der Anfang. Während sich der Titeltrack „Otherness“ beispielsweise mit dem Schicksal des Außenseitertums beschäftigt, geht es bei „End Of The World“ um die verpassten Chancen im Angesicht des Untergangs. Der vielleicht eindringlichste Titel des Albums ist der Song „Mother“, in dem eine Tochter ihre Mutter bittet, sich von deren missbräuchlichen Ehemann zu trennen, um gemeinsam eine bessere Zukunft anstreben zu können.
Musikalisch spiegelt sich diese Düsternis nicht unbedingt 1:1 wieder – aber emotional ist das ganz harter Toback. Wie kommt man denn auf so etwas?
„Die Autorin Phoebe Waller-Bridge, die die Fernsehserie 'Fleabag' konzipiert hat, wurde ein Mal gefragt, wie sie denn so düstere Themen behandeln könne, wenn diese doch nicht autobiographisch seien“, führt Izzy aus, „sie antwortete darauf: 'Nein – das ist nicht autobiographisch, sondern meine größte Angst'. Ich dachte, dass das eine gute Antwort wäre und ich denke, dass wir unbewusst oft ebenso über Situationen schreiben, die nicht real (oder autobiographisch) sind, sondern ihren Ursprung in unseren größten Ängsten haben. Also etwa nach dem Motto: 'Was wäre wohl, wenn mir jemals so etwas passieren würde?'. Also sind unsere Songs durchaus realistisch – auch wenn sie nicht die Realität schildern; wenn das denn Sinn macht. Wir haben eine Menge Songs für dieses neue Album geschrieben und als wir diese zusammenstellten, entwickelte sich das Thema 'Otherness' – also das Gefühl irgendwie anders zu sein - als Leitmotiv. Das sagten wir uns: Also wenn es das ist, was uns gerade ausmacht, dann sollten wir dem auch folgen. Lass uns dann diese Idee noch etwas ausbauen. Mit der Zeit entwickelten sich dann die Charaktere, Situationen und Perspektiven, über die wir dann singen. Was wir erreichen wollten, war mit unseren Songs am Ende eine gewisse Hoffnung zu vermitteln?"
Das gilt wohl für Songs wie „Mother“ oder „Otherness“ die bestimmte Szenarien recht deutlich beschreiben. Woher kommen aber Songs wie „Muzzle“ - die sich praktisch in psychedelischen Fieberträumen ergehen (zumindest für den Außenstehenden)? Da gibt’s doch keine Hoffnungs-Ambitionen.
„Da würde ich nicht zustimmen, dass es keine Hoffnung gibt“, meint Issy, „denn zumindest explodiert der Song doch am Ende in dieser befreienden, kathartischen Kakophonie."
Auch Archie – der auf diesem Track übrigens selber Schlagzeug spielt und für die genannte Explosion also mitverantwortlich ist, hat eine bestimmte Meinung zu diesem Track:
„In dem Song geht es darum, in einer Situation gefangen zu sein. Der Effekt auf der Stimme (der den im Titel besungenen Maulkorb verkörpert) stellt dar, dass Du in einer Welt des „Anders-Seins' gefangen bist. Du versuchst aus dieser Situation auszubrechen – und am Ende durchbrichst Du dann die Ketten und befreist Dich, weil es eben doch Hoffnung gibt. Du rennst dann also befreit – sagen wir mal – durch die amerikanische Landschaft und am Ende des Albums verliebst Du Dich wieder. Es ist also zunächst alles düster – aber dann befreist Du Dich. Also das war zumindest unsere Idee."
Wie gingen Ferris & Sylvester das Album denn musikalisch an? Gab es einen Plan?
„Also wir versuchen immer, den Song als solchen in den Mittelpunkt zu stellen“, berichtet Issy, „es geht also immer darum, was der Song braucht. Wir haben festgelegt, mit welchen Instrumenten wir das Album produzieren wollten und haben dann mal geschaut, in welche Richtung wir uns mit dem jeweiligen Song bewegen könnten und was dieser brauchen könnte. Das haben wir bei jedem Song gemacht."
Erklärt das dann die vielen verschiedenen Elemente, die in den Songs dann zusammenkommen?
„Ja, aber das hat auch noch einen anderen Hintergrund“, verrät Archie, „nachdem wir eine Menge Songs geschrieben hatten, haben wir diese, die Texte und den Titel des Albums an die Künstlerin Karen Lynch von Leaf & Petal Design geschickt, die das Artwork gemacht hat und haben sie gebeten sich etwas einfallen zu lassen, denn das sollte den Pfad für uns vorgeben. Sie hat daraus diese Collage gemacht, die wir uns im Studio aufgehängt haben und uns bei den Aufnahmen gesagt, dass jeder Song in die Welt passen müsste, die sie mit dieser Collage erschaffen hatte. Deswegen haben wir auch eine analoge Bandmaschine verwendet, denn diese Collage bestand aus Fotos aus den 50ern und 60ern, die mit analogen Kameras aufgenommen wurden und diese übertrieben farbgetränkten, verzerrten Bilder erzeugten. Um diese Bilderwelt dann in unseren Sound zu übersetzen, mussten wir dann eben die Bandmaschine verwenden. Das transportierte uns dann unweigerlich auch in die Welt der 50er und 60er – weswegen wir auch diese Streicher und psychedelischen Sounds verwendeten, um eben diesem Artwork gerecht werden zu können."
Was sehen Ferris & Sylvester denn als größte Herausforderung beim Song-Schreiben? Etwa ein Thema oder einen Anfang zu finden?
„Nein – damit haben wir keine Probleme, weil es das ist, was wir beide gerne machen“, erklärt Issy, „das Schreiben von Songs ist ja das, was uns ausmacht. Ich würde sagen, dass uns das ganz natürlich zukommt. Wir arbeiten zwar schon sehr hart daran – aber wir müssen nicht hart daran arbeiten, uns auf diese Weise ausdrücken zu können. Der schwierigste Teil, wenn man als Duo arbeitet ist vielleicht der, dass wir beide viel in einen Song investieren, dann aber verschiedene Vorstellungen davon haben können, in welche Richtung sich dieser dann entwickeln könnte. Ich sage dann vielleicht, dass ich mir vorstellen könnte, dass er in die eine Richtung geht und Archie sieht das dann ganz anders. Da müssen wir uns dann irgendwie einigen müssen."
Das ist Ferris & Sylvester auch auf dem neuen Album wieder gelungen. Und wenn es ihnen nicht gelungen sein sollte, entwickeln sich die Songs dann eben in verschiedene Richtungen gleichzeitig. Das soll aber unser Schaden als Zuhörer nicht sein, denn auf diese Weise entstand ein bemerkenswert abwechslungsreicher, komplexer und musikalisch stets überraschender Stilmix entstanden, in dem sich immer wieder neue Details, Akzente und Nuancen entdecken lassen. Kurzum: Genauso sollte ein Album sein, das sich auf Zeitlosigkeit und nicht auf den gerade angesagten Trend beruft.
Aktuelles Album: Otherness (Archtop Recs./PIAS)
Weitere Infos: https://www.ferrisandsylvester.com/ Foto: Felix Bartlett