Man kann ja nun wirklich über Kristin Hersh denken, was man will – aber tatsächlich hat sich die Gute über die Jahrzehnte mit ihren Projekten Throwing Muses und 50Ft. Wave sowie als Solo-Künstlerin als eine der beständigsten und konsequentesten Indie-Künstlerinnen überhaupt gezeigt. Tatsächlich ist sie auch eine der vielseitigsten und produktivsten Vertreterinnen ihrer Art, denn ab 2007 etablierte sie sich über ihr Alter Ego Rat Girl auch als Autorin – zunächst mit dem Kinderbuch „Toby Snax“, dann mit ihren Memoiren „Rat Girl“, 2015 mit der Hommage „Don't Suck, Don't Die“ an ihren verstorbenen Freund Vic Chesnutt und zuletzt mit dem Buch „Seeing Sideways“. 2008 läutete sie eine radikale Indie-Phase ein und veröffentlichte ihre nächsten drei Solo-Projekte selber oder in Buchform über einen Verlag. Erst mit dem 2018er Werk „Possibile Dust Cloud“ vertraute sie sich wieder einer Plattenfirma an – wählte dieses Mal jedoch das auf Psychedelia spezialisierte Indie-Label Fire Records, auf dem nun auch das vorliegende, neue Album „Clear Pond Road“ erscheint. Als wir uns das letzte Mal anlässlich des Albums „Learn To Sing Like A Star“ unterhielten, stand sie noch ganz unter dem Eindruck des Hurricane Catrina, der weiland New Orleans – und ihr Haus – verwüstete und sie obdachlos gemacht hatte. Wie ist es ihr denn seither gegangen?
„Ach obdachlos“, meint Kristin, als ob das nicht der Rede wert wäre, „die Kinder haben ja damals schon erkannt, dass wir da nicht unser Zuhause, sondern nur ein Gebäude verloren hatten. Ich hatte es für ein Zuhause gehalten. Wir hatten uns damals ins Auto gesetzt, um neu anzufangen, weil die Versicherung nicht den entstandenen Schaden decken würde und die Kinder sagten dann: 'Nun ist das Auto unser Zuhause' und sie hatten recht."Wie sieht Kristin denn die Frage der Heimat heutzutage? Wer oder was ist denn ihr Zuhause, wenn es Gebäude nicht sind? Menschen vielleicht?
„Nun Menschen sind ja auch irgendwie Gebäude“, führt sie aus, „sie leben in Körpern und sie verschwinden manchmal. Ich habe das Gefühl, dass mein einziges Zuhause heutzutage meine Songs sind – bzw. die Songs, die zu mir kommen. Meine Kollegen und ich springen ständig in den Fluss der Musik. Wir spielen, weil wir wissen, das das der Ort ist, zu dem wir uns hingezogen fühlen. Wir nehmen nicht immer alles auf, was wir spielen und wir veröffentlichen auch nicht alles – das ist eine andere Sache. Das Spielen in dem Fluss der Musik machen wir dann alle zusammen. Aber die Songwriter unter uns werden sozusagen schwanger geboren. Sie fühlen, dass sie die Körper für die Musik sind und ermöglichen das. Das ist übrigens eine verquere Art sich zu fühlen. Aber so lange ich einen Körper habe, der mir sagt, dass ich in den Fluss springen soll, fühle ich mich zu Hause. Das ist das Gefühl eines Zuhause für mich – denn alles andere verflüchtigt sich irgendwann."
Das passt zu dem, was Kristin in der aktuellen Bio beschreibt. Dass nämlich die Musik – und der Song - eine körperliche Sache sei und sie einen Körper aus dieser Scheibe bauen musste.
„Ja, ja, genau“, pflichtet sie bei, „das hat damit zu tun, dass ich als Songwriter Abstand von dem Song nehmen muss, wenn ich als Produzentin tätig werde und vorgeben muss, dass der Song einen Effekt hat, an dem ich mich erfreuen kann, ohne die Sache persönlich zu nehmen. Dann weiß ich, wo ich die Mikros platzieren kann, dann weiß ich, wie ich die Instrumente auswählen muss, welche Effekte ich verwenden muss und welche nicht. Der Song ist dann wie der Körper eines Kindes und ich bin dafür verantwortlich – aber wenn ich ihm sagen würde, was er zu tun hätte, würde ich ihn genauso dumm wie mich selbst machen. Das kann ich nicht gebrauchen. Ein Song weiß, was er werden möchte. Meine Aufgabe ist es bloß, ihn warm zu halten und ihm Frühstück zu machen, damit etwas Ordentliches aus ihm werden kann."
Das macht die Sache ja auch wieder greifbarer – und somit körperlicher. „Richtig, richtig, richtig“, pflichtet Kristin bei, „wir haben diese Sache ja auf dem Low-Fi-Sektor als gegeben hingenommen. Aber wenn es nicht Low Fi genug ist oder das Zusammenspiel zu sauber, dann füge ich Umwelt-Geräusche hinzu, um es weniger poliert und eben körperlich klingen zu lassen. Andererseits würde ich nämlich den körperlichen Effekt negieren.“ Und wie Steve Wynn zu sagen pflegt: In der Musik ist Perfektion einfach nicht gut genug. „Stimmt – aber Tontechniker wissen das nicht“, lacht Kristin, „mein Tontechniker hat neulich zu mir gesagt: 'Jetzt hab' ich's verstanden: Du magst keine guten Sounds'. Aber kein Sound ist gut, wenn er nicht gut zu einem Song passt."
Das mal alles eingedenk: Sucht Kristin dann überhaupt noch nach einem roten Faden oder einem Thema für ihre Projekte?
„Normalerweise schreibe ich immer ungefähr 10 Songs mehr, als ich brauche – und lasse diese dann weg, wenn ich editiere“, erklärt Kristin, „dieses Mal habe ich aber eine ganze LP eingestampft und neu angefangen – einfach weil mir die Musik mir nicht dieses eine 'Ding' vermittelt hatte. Ich weiß aber leider nicht, was dieses eine 'Ding' ist und muss auf Journalisten wie Dich warten, die mir das dann erklären. Aber bevor ich angefangen habe, über die neue Scheibe zu sprechen, haben Leute, die mir nahestehen und die Musik schon gehört hatten gesagt, dass die neue Scheibe wie ein Theaterstück klänge und die Songs wie Szenen eines Stückes wirkten. Das einzig störende an diesem Konzept war, ist der Umstand, dass der letzte Song sehr traurig ist – was bedeutete, dass es sich um eine Tragödie handelte."
Ja – das könnte man so sehen – auch wenn die visuellen Aspekte in Kristin's Songs doch eher an einen Anthologie-Film und seine Szenen erinnerten. Lässt Kristin diese Aspekte eigentlich absichtlich in ihre Texte einfließen?
„Diese Interpretation gefällt mir auch“, meint Kristin, „ich mache aber natürlich nichts bewusst oder mit Absicht – es zeichnet aber einen guten Zuhörer aus, dem Fluss der Dinge zu folgen. Das ist, wie im Schlaf dem Fluss eines Traumes zu folgen. Da arbeitet man auch nicht mit einer gepflegten Konversations-Sprache. Die Wahrheit ist dabei höher anzusiedeln als Ehrlichkeit. Wenn ich Dir die Geschichten erzählte, die zu diesen Songs geführt haben, dann wären diese unerheblich und langweilig und handelten von mir. Der impressionistische lyrische Ansatz hat aber diesen bestimmten Effekt auf einen wahren Zuhörer. Nicht jeder ist musikalisch so gebildet, diesen Traum-Effekt zu erfahren. Es ist aber die Aufgabe des Zuhörers sich diesen impressionistischen Effekt zu erarbeiten. Wenn man nicht damit geboren wurde, muss man ihn sich vielleicht wieder aneignen – weil wir in der Musik so oft belogen wurden."
Wie funktioniert das denn heutzutage auf der musikalischen Ebene für Kristin. Geht es da auch um Intuition und das Editieren?
„Die Musik kommt und die Musik ist stets da“, führt Kristin aus, „früher dachte ich immer, die Musik käme von außen – aber seit ich erfolgreich gegen PTSD behandelt wurde, höre ich sie aus dem Inneren. Ich kann sie dann mit meinen Geschichten und Erinnerungen in Einklang bringen. Aber es hat sich für mich nichts geändert. Die Texte sind für mich wie Instrumente, mittels derer ich Geschichten formuliere. Wenn sich die Worte dann nicht richtig anhören oder mir im Halse stecken bleiben, dann fühlt sich das für mich an, als würde ich lügen. Dann muss ich das hässlicher machen. Es muss sich dann anfühlen, wie auf dem Fußboden von jemand anderem aufzuwachen, es muss sich peinlich anfühlen. Es muss nicht sehr beeindruckend sein, aber rau."
Ist das vielleicht auch der Grund, warum Kristin auf Twitter postete, dass sie sich wünschte, LPs machen zu können, die niemand anzuhören bräuchte?
„Ja“, bestätigt sie, „ich wäre gerne in der Lage die Rechnung aufstellen zu können, dass ich eine Scheibe machen könnte, die zwar existiert, die ich aber nicht jemandem verkaufen müsste.“
Seit einiger Zeit ist Kristin ja wieder bei einem Label unter Vertrag. Wie hat sich denn ihre Independent-Phase gestaltet, in der sie alles selbst über Crowdfunding herausbrachte?
„Gut“, meint sie, „ich habe zwar große Demut empfunden als ich meine Hörer bat, meine Plattenfirma zu sein, aber ich dachte ja, dass das nur eine kurzzeitige Phase sein würde. Viele Jahre später sind aber Sachen wie Kickstarter eine nicht mehr wegzudenkende Realität. Mein Modell hat also funktioniert. Das bedeutet, dass ich mich heute nicht mehr um Vorgaben kümmern muss. Ich war ja auch für meine Integrität bekannt, als ich noch bei Warner Bros. war – aber da war immer diese Stimme, die auf mich einwirkte. Die Idee, dass die Leute dumm sind und dass meine Musik nicht wie ein Geschenk sein dürfte, sondern dumm und modisch sein müsste um erfolgreich sein zu können, brauchte Jahre, um aus meinem Sinn zu verschwinden. Ich lerne immer noch Dinge über die Musik. Ich übe jeden Tag stundenlang und finde immer noch Sachen heraus, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren. Wenn es da eine Stimme gibt, die versucht, Dir einzureden, dass die Sache dümmlich sein müsste – wie will man dann noch etwas Neues lernen?“
Was hat es eigentlich mit dem prophetischen Charakter auf sich, den Kristin einigen ihrer Songs früher zuschrieb. Gibt es den immer noch?
„Absolut“, bestätigt Kristin, „Songs werden irgendwann passieren. Das ist mir erst gestern passiert, als mich jemand zu einem meiner Songs kontaktierte und meinte, dass sich dieser sozusagen erfüllt habe. Ich weiß gar nicht was es ist – das Gefühl, das Aussehen, die Botschaft – manifestiert sich in Echtzeit in meiner Gruppe von Betroffenen. Das ist ein wenig mystisch."
Es könnte ja auch bedeuten, dass Kristin's Songs Träume sind?
„Ich glaube sogar, dass alles irgendwie ein Traum ist“, schmunzelt Kristin, „wir bringen unsere Kinder abends mit dem Wissen zu Bett, dass sie freiwillig in die Traumwelt eintauchen und sie wecken sie morgens und wissen, dass sie freiwillig in die Realität wechseln. Wenn Menschen sterben, werden sie zu Träumen. Wenn wir uns am stärksten in der Realität verwurzelt sehen, werden wir zu dem Traum, zu dem wir von vorneherein bestimmt waren. Ein Song erinnert Dich lediglich daran, diese Sache zu akzeptieren."
Das bedeutet übrigens, dass Kristin's Musik automatisch zeitlos wird, da Träume – wenn man sich erst mal an sie erinnern kann – ja niemals älter werden.
„Oh das gefällt mir sehr“, meint Kristin, „zumal in der Industrie Moden eine wichtige Rolle spielen. Eitelkeit und Seele treten aber nicht zusammen auf. Wenn Dir also die Mode wichtig ist, dann befindest Du Dich auf einer Zeitschiene, die niemals zeitlos sein wird. Da ist OK, denn Stil kann ja wichtig sein. Ohne Substanz aber steckt man auf der Zeitschiene im Augenblick fest – und dann übernehmen wieder die bellenden Hunde der Furcht, weil man dann wieder daran glaubt, dass man sterben wird. Wenn man aber aus einem Traum heraus agiert, dann wird die Substanz erhalten bleiben."
Der Traum wird auch so schnell nicht enden: Gleich im Anschluss an die Veröffentlichung geht Kristin mit „Clear Pond Road“ auf Tour – erst mal im UK und Australien, dann aber auch in den USA und Europa – aber parallel arbeitet sie schon an einem neuen Throwing Muses Album. Und dieses soll dann auch mal richtig Spaß machen.
Aktuelles Album: Clear Pond Road (Fire Records / Cargo)
Weitere Infos: https://www.kristinhersh.com/ Foto: Pete Mellekas