Steve Gunn ist Musiker mit Leib und Seele, ein echter Künstler, der sich als Hörer und Performer noch nie durch Konventionen oder Schubladendenken hat einschränken lassen. Mit dem fein destillierten Sound seiner sechsten LP, dem verwegen ausufernden Doppelalbum ´Other You´, streift der ursprünglich aus Pennsylvania stammende, seit Langem aber in Brooklyn heimische Musiker Roots-Rock, Americana und Folk mit kosmischem Touch, ist dabei aber doch ganz er selbst.
Steve Gunn fühlt sich wohl in seiner Haut. Die letzten 15 Jahre hat der sympathische, betont unprätentiös und bescheiden wirkende Amerikaner damit verbracht, seinem Herzen zu folgen und seinen Weg zu finden, jetzt ist er an einem Punkt angekommen, an dem er all seine gebündelten Erfahrungen in sein künstlerisches Tun einfließen lassen kann.„Musik ist für mich wie ein Anker in meinem Leben, in guten wie in schlechten Zeiten“, erklärt er im Videochat mit der Westzeit. „Als Hörer kehre ich oft zu der immer gleichen Musik zurück, als sei sie eine Art vertrauter Freund. Das Leben und Erbe meiner Helden ist ein ständiger Antrieb und ein fortwährender Quell der Inspiration für mich."
Dabei ist Gunn Traditionalist und Suchender zugleich. Schon als Kind und Jugendlicher ließ er sich von der reichen musikalischen Historie Philadelphias inspirieren und entdeckte Musik aus verschiedenen Epochen und Kulturen. Der Hang zum Eklektizismus ist auch auf seinem neuen Album spürbar. Für ´Other You´ lässt Gunn deshalb den klar abgesteckten Sound seines ungewohnt präzise, bisweilen fast schon indiepoppig anmutenden 2019er-Albums ´The Unseen In Between´ ein Stück weit hinter sich.
"Auf der neuen Platte bin ich ganz ich – und fühle mich wohl dabei, dass meine Songs bisweilen ein wenig idiosynkratisch sind oder mein Gesang nicht immer wirklich bombastisch ist“, verrät er. „Ich bin gar nicht darauf aus, so schnell wie möglich mein Meisterwerk zu schreiben. Für mich ist das Musikmachen eine Verpflichtung und eine lange Reise."
Eine lange Reise ist ´Other You´ allerdings nicht nur metaphorisch. Erst gab die erzwungene Pandemiepause Gunn unerwartet viel Zeit, seine nächsten künstlerischen Schritte zu überdenken, dann reiste er von Brooklyn nach Los Angeles, um die neue Platte mit dem für seine Zusammenarbeit mit Beck, Elliott Smith und Gunns altem Weggefährten Kurt Vile bekannten Produzenten Rob Schnapf aufzunehmen. Gleichzeitig ist das Album aber auch ein Blick zurück nach vorn, denn auch Gunns alter Kumpel Justin Tripp, mit dem er 2013 sein Breakthrough-Album ´Way Out Weather´ aufgenommen hatte, war wieder mit an Bord.
"Das war ein Album, das auf wirklich organische Art und Weise entstanden ist“, erzählt Gunn. „Eigentlich wussten wir damals gar nicht genau, was wir da eigentlich tun. Wir sind einfach ein paar Tage ins Studio gegangen und alles fühlte sich vollkommen natürlich an. Meine letzte Platte wurde dagegen in einem teuren Studio mit hochkarätigen Musikern aufgenommen, und ich hatte die Idee, die Songs ein bisschen herauszuputzen. Ich denke, das ist uns auch gelungen, aber dieses Mal wollte ich zu der Arbeitsweise zurückkehren, bei der ich meine Entscheidungen nicht hinterfrage – eine natürliche Atmosphäre, ein natürlicher Prozess –, und dieses Mal fühlte es sich wirklich wieder so an."
Wegen der Pandemie fanden die ursprünglichen Sessions in Kalifornien nur mit einem harten Kern aus drei Musikern statt, doch anschließend bat Gunn eine ganze Reihe „famous friends“, darunter Julianna Barwick, Mary Lattimore, Bridget St. John, Jeff Parker und Bill MacKay, den Songs noch weitere Parts hinzuzufügen. Trotz der zahlreichen Gastbeiträge wirken die Arrangements der neuen Lieder spürbar luftiger. Anstatt die Lücken mit komplizierten Gitarrenlicks zu füllen, ließ Gunn den Songs bewusst Raum zu atmen und sorgte auch dafür, dass sein Gesang viel besser zur Geltung kommt als zuvor. Gleichzeitig kehrt mit dem Album aber auch sein Faible für schräge, experimentelle Ideen zurück, denn angespornt von Schnapf und Tripp zensierte er seine Fantasie dieses Mal nicht, sondern feilte so lange an den Liedern, bis dort Platz für seinen Eigensinn war.
"All die Selbstzweifel, die mich zuvor immer geplagt hatten, waren plötzlich verschwunden“, erklärt er. „Ich hatte das Gefühl, dass ich nichts mehr beweisen musste. Ich spürte nicht den Druck, ein grandioses Statement abliefern zu müssen. Ich war einfach glücklich, in Los Angeles in diesem großartigen Studio zu sein, und hatte das Gefühl, dass endlich alles zusammenpasst."
Aktuelles Album: Other You (Matador/Beggars Group/Indigo)
Weitere Infos: steve-gunn.com Foto: Stephanie Nicole Smith