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HALF WAIF

„Alles ist wichtig!“

HALF WAIF

Mit kühler elektronischer Eleganz und dunkel funkelnden Emotionen Schlaglichter auf ihr Leben zu werfen, um in persönlichen Erfahrungen und Ängsten universelle Wahrheiten zu finden, war für Nandi Rose schon immer ein Leichtes. Ihr famoses neues Album ´Mythopoetics´ zeigt die charismatische Amerikanerin nun einmal mehr als eine Künstlerin mit Leib und Seele, die für ihre behutsam aufgeschichteten Synth-Pop-Kleinode selbstbewusst wie nie die Überbleibsel vergangener traumatischer Erlebnisse nutzt, um ihren Weg in ein zufriedeneres Leben nachzuzeichnen.

Eigentlich hatte Nandi Rose ihre Quarantäne bereits hinter sich, als die COVID-19-Pandemie im Frühjahr des letzten Jahres von der Welt Besitz ergriff. 2019 hatte sich die ursprünglich aus Western Massachusetts stammende Musikerin eine Auszeit vom stressigen Touralltag gegönnt, der die vorangegangenen Jahre ihr Leben bestimmt hatte, um sich ganz dem Schreiben neuer Songs zu widmen. Gemeinsam mit ihrem frisch angetrauten Ehemann, Pinegrove-Schlagzeuger Zack Levine, entfloh sie dem hektischen Treiben Brooklyns und wurde in Upstate New York heimisch, wo sie all das fand, wonach sie gesucht hatte: mehr Zeit, um sich ganz auf sich selbst und ihr Schaffen zu konzentrieren, eine größere Nähe zur Natur, die für sie seit jeher ein Quell der Inspiration ist, und ganz allgemein mehr Ruhe und Raum zur Entfaltung in persönlicher wie künstlerischer Hinsicht. Irgendwann beschlich Nandi allerdings das Gefühl, dass es ein bisschen zu viel des Guten war. Als ´The Caretaker´, das Album, das in diesem Jahr der Stille entstanden war, Ende März 2020 erschien, war Nandi ganz versessen darauf, sich wieder ins Getümmel zu stürzen und mit ihrer neu formierten Band auf Gastspielreise zu gehen. Wie wir wissen, kam es anders, und so sitzt Nandi auch 15 Monate später beim Videointerview mit der Westzeit wieder in dem kleinen Arbeitszimmer, in dem die meisten ihrer Lieder entstehen und das in den zurückliegenden Monaten auch gleich mehrfach zur Bühne für ihre Live-Stream-Auftritte wurde, und sinniert über die Bedeutung von „Zuhause“.

„Ein Zuhause zu haben, ist mir unglaublich wichtig, denn ich bin eine echte Stubenhockerin“, verrät sie. „In der Hinsicht bin ich ein typischer Steinbock. Ich habe es schon immer geliebt, daheim zu sein. Meine ganze Kindheit, von der Geburt bis zum College, habe ich im gleichen Haus verbracht, und vielleicht auch deshalb hat das Gefühl von Schutz, Geborgenheit und Sicherheit für mich schon immer eine große Rolle gespielt. Natürlich hat das alles in den zurückliegenden Monaten noch einmal eine ganz neue Bedeutung gewonnen, als unser Zuhause alles war, was wir hatten."

Trotzdem spürte auch Nandi gerade zu Beginn des Lockdowns ein wenig den Lagerkoller, mit dem viele Künstler zu kämpfen hatten, deren sorgsam ausgetüftelten Tour- und Veröffentlichungspläne plötzlich in nichts aufgelöst hatten, doch dann half ihr eine simple Änderung der Perspektive, sich besser mit der unausweichlichen Situation zu arrangieren.

„Kurz nach Beginn der Pandemie gestand ich einer Freundin, dass ich das Gefühl hätte, zu Hause eingesperrt zu sein, nachdem ich mein Heim zuvor stets als Zufluchtsort wahrgenommen hatte“, erinnert sie sich. „Sie schlug vor, nicht davon zu sprechen, zu Hause festzustecken, sondern eher zu sagen, dass wir daheim in Sicherheit sind. Diese kleine Verschiebung der Betrachtungsweise hat mir geholfen, mich in die neue Situation einzufühlen, denn natürlich ist dein Zuhause ein Ort der Sicherheit, und es kann auch ein Ort großer Inspiration sein. Gerade für mich als Künstlerin, die normalerweise ihre Anregungen aus einer fortwährend anderen Umgebung zieht, bedeutete das erst einmal ein Umdenken. Das war so, als würde man ein nach innen gerichtetes Teleskop auf einen ganz kleinen Bereich fokussieren, um Bedeutung und Inspiration in der unmittelbaren Umgebung finden zu können. Darin liegt viel Schönes!"



´Mythopoetics´, die nun erscheinende fünfte Half-Waif-LP, entstand fast komplett vor der Pandemie und ist ausdrücklich kein „Lockdown-Album“, trotzdem bemerkt Nandi inzwischen, dass sich ihre veränderte Sichtweise auch auf ihr künstlerisches Tun niederschlägt.

„Auf meinem bisherigen Weg stand für mich stets im Vordergrund, mich meinem Inneren zu widmen und das nach außen zu tragen“, erklärt sie. „Jetzt geht es mir viel stärker darum, äußerliche Aspekte und eine stärkere Wahrnehmung der räumlichen Umgebung in mein Schreiben einzubeziehen. Mit meiner Arbeit bis hin zu ´Mythopoetics´ habe ich gewissermaßen rausgezoomt und mich einer konkreten Verortung entzogen. Meine bisherige Herangehensweise hat dafür gesorgt, dass ich den Blick auf die kleinen Dinge um mich herum verloren habe. Das ist etwas, über das ich mir nun wieder mehr Gedanken mache."

Bedeutet das auch, dass Nandi inzwischen mit ihrem Schreiben in der Gegenwart angekommen ist, nachdem sie sich zuvor vor allem den emotionalen Ballast der Vergangenheit zum Thema gemacht hatte?

„Oft weiß ich selbst gar nicht, ob ich über die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft schreibe“, erwidert sie. „Zwischen diesen Ebenen herrscht ein ständiges Zwiegespräch, denn natürlich ist unser gegenwärtiges Sein untrennbar damit verknüpft, was wir zuvor erlebt haben. Für mich gibt es da keine klare Trennung. Mit jeder Platte, die ich geschrieben habe, betrachte ich die Vergangenheit, frühere Traumata und Geschichten über Herkunft durch die Linse meiner gegenwärtigen Situation."

Die Songs auf ´Mythopoetics´ besitzen dennoch eine neue Qualität und symbolisieren damit perfekt, dass für Nandi das Schreiben ihrer Lieder seit jeher ein Akt der Transformation ist. Aus der Betrachtung der dunkelsten und verletzlichsten Momente des Lebens, die für die Tochter eines amerikanischen Vaters und einer Mutter mit indisch-ugandischen Wurzeln oft eng mit ihrer Abstammung verknüpft sind, schöpft sie Kraft und erinnert gleichzeitig daran, dass wir die Möglichkeit haben, die Geschichten, die wir erzählen, und die Mythen, die wir aus unserem Leben machen, selbst zu gestalten. Tatsächlich klingt Nandi auf ´Mythopoetics´ spürbar selbstbewusster als noch auf dem Vorgänger.

„Die Lieder auf ´The Caretaker´ sind aus meinem Gefühl der Selbstverachtung heraus entstanden“, verrät sie. „Sie waren ein Spiegelbild meines damaligen Lebens. Nie war es um mein Selbstwertgefühl schlechter bestellt, und die Platte reflektiert, mit was ich mich damals herumschlug. Natürlich ist es ein vermutlich lebenslanger Prozess, mein Selbstvertrauen aufzumöbeln, trotzdem war es cool festzustellen, dass ich mich während der Arbeit an ´Mythopoetics´ viel stärker gefühlt habe und mir selbst viel mehr verziehen habe."

Das gilt ganz besonders für den Gesang auf der neuen LP, denn Nandi ist überzeugt davon, dass ihr neues Selbstbewusstsein sich vor allem über ihre Stimme offenbart.

„Ich erforsche mit meiner Stimme nun ein breiteres Spektrum der Klangfarben, und die müssen nicht immer schön sein“, erklärt sie. „Auf ´Powder´ zum Beispiel klingt der Gesang unheimlich dünn und nasal. In der Vergangenheit hätte ich das nicht zugelassen, denn ich hätte beweisen wollen, dass ich eine klassisch ausgebildete Sängerin bin. Jetzt erfreue ich mich einfach daran, ein kompletter Mensch zu sein und meine Gefühle durch das Instrument meines Körpers auszudrücken."

Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Nandi eigentlich gar nicht vorhatte, so schnell nach ´The Caretaker´ ein weiteres Album aufzunehmen. Doch als ihre letzte LP kurz vor der Vollendung stand – der finale Mix fehlte noch –, wurde Nandi zu einer zehntägigen „Recording Residency“ ins Pulp Art Studio in Gainesville, Florida, eingeladen, um zusammen mit Multiinstrumentalist, Filmkomponist und Produzent Zubin Hensler, mit dem sie über die Jahre im Studio und auf der Bühne immer mal wieder gemeinsame Sache gemacht hatte, einige ihrer alten Songs in neue Richtungen zu schubsen und dabei zu ihren musikalischen Wurzeln zurückzukehren.

„Unsere ursprüngliche Idee war, die akustische Seite meiner Musik wieder stärker zu betonen und das Klavier in den Mittelpunkt zu rücken, denn so hatte mich Zubin 2013 in New York zum ersten Mal gehört. Wir dachten beide, die Einladung nach Gainesville sei die perfekte Gelegenheit dafür“, erinnert sich Nandi. „Wie ich nun aber bin, brachte ich zu den Aufnahmen auch noch einige neue Songs mit, die auf eine viel größere Produktion und eher auf mein Pop-Faible abzielten. Deshalb nahmen die Sessions schnell andere Richtung als eigentlich geplant. Das Fundament für das Album, ´Fabric´, ´Sourdough´ und ´Powder´, also die Lieder am Anfang, in der Mitte und am Ende, bleiben allerdings der ursprünglichen Idee treu. Sie bilden in gewisser Weise die DNA der Platte ab, die wir eigentlich machen wollten, wenngleich wir sie anschließend mit mehr Farben und Texturen ausstaffiert haben."

Die Idee, jedes neue Projekt mit einer völlig eigenen Herangehensweise in Angriff zu nehmen und unterwegs überraschende Drehungen und Wendungen dankend anzunehmen, ist nicht neu für Nandi.

„Jedes Album aus einer anderen Perspektive zu betrachten bedeutet, dass ich bei jeder Platte unglaublich viel lerne – über mich als Künstlerin, über das, was funktioniert, und auch über das, was nicht funktioniert“, sagt sie. „In dieser Hinsicht stehen alle Platten in einem Dialog miteinander. Bei ´The Caretaker´ habe ich zum Beispiel auf eine ganze Reihe Musiker zurückgegriffen, und es war wundervoll, andere kreative Stimmen im Raum zu haben und zu sehen, was sie einbringen."

Auf dem neuen Album ist Zubin nun Nandis einziger Mitstreiter, doch auch das war anfangs anders gedacht.

„Eigentlich hatte ich nicht vor, ´Mythopoetics´ nur zu zweit aufzunehmen, aber als wir Gainesville verließen und diese Platte in zehn Tagen aus dem Nichts entstanden war, sagte mir mein Bauchgefühl, dass wir auch für die zwei weiteren Sessions in Zubins Studio in Brooklyn niemand anders hinzuziehen sollten. Letztlich war das auch ein Ansporn, uns alles abzuverlangen. Ich war einfach neugierig, wie viel wir zu zweit schaffen könnten. Es ging darum, unsere Grenzen als Künstler auszuloten, und ich finde, das war eine ziemlich coole Herangehensweise."

Nandis liebenswerte Begeisterungsfähigkeit und ihr unbändiger Wille, für ihre Kunst alles auf eine Karte zu setzen, macht sich auch in den Videos zur neuen Platte bemerkbar. Während die zwölf Songs des Albums deutlich weniger konzeptlastig sind als die auf früheren Half-Waif-Werken, spannt Nandi gemeinsam mit Regisseurin Kenna Hynes in den vier kunstvoll ausgestalteten Clips zu den Tracks ´Orange Blossoms´, ´Party´s Over´, ´Take Away The Ache´ und ´Swimmer´ dann doch einen thematischen Bogen. Eine mysteriöse goldene Blume, eine Motorradverfolgungsjagd und Nandis älteres Ich (treffenderweise dargestellt von ihrer eigenen Mutter) sind dabei nur die Spitze des spirituell angehauchten, mythopoetischen Eisbergs. Obwohl die Inszenierung dieses fantasievollen Minispielfilms unglaublich zeit- und kraftraubend war, stürzte sich Nandi auch in diese Aufgabe mit dem gleichen Feuereifer, mit dem sie auch ihre Songs angeht.

„Ich liebe es, Videos zu drehen, auch wenn sie unglaublich viel Vorbereitung benötigen und die Drehtage oft sehr anstrengend sind“, sagt sie. Dass sämtliche Clips im tiefsten Winter, teils bei Temperaturen deutlich unter null gedreht wurden, war eine weitere Herausforderung.

„In manchen Szenen kann man sehen, wie ich zittere, weil es einfach bitterkalt war und ich nur ein kurzes Kleid anhatte“, sagt Nandi und muss lachen. „Trotzdem gehört das für mich einfach dazu, wenn man alles für eine Sache geben will. In der Kampfszene in ´Swimmer´ wurde ich auf den staubigen, steinigen Boden geworfen, und ich habe geweint, weil ich überall Blessuren hatte, trotzdem wollte ich genau das: Ich wollte mich körperlich in die Arbeit werfen und alles geben."

Dass manche Musiker sich lieber allein auf die Musik konzentrieren und Videos eher als notwendiges Übel betrachten, kann sie deshalb nicht nachvollziehen.

„Wenn du so viel in die Musik investierst, dann sollte das auch bei allen anderen Aspekten deines Tuns der Fall sein, denn schließlich hängt das alles zusammen“, sagt sie bestimmt. „Alles ist wichtig!

Aktuelles Album: Mythopoetics (Anti / Indigo) VÖ 09.07.


Weitere Infos: half-waif.com Foto: Lissyelle Laricchia

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