Erika de Casier macht Musik zu ihren eigenen Bedingungen. Zwei Jahre nach dem Überraschungserfolg mit ihrem Debüt ´Essentials´ macht die 31-jährige Allround-Künstlerin auch auf dem keinesfalls nur augenzwinkernd ´Sensational´ betitelten Nachfolger keinen Hehl aus ihrer Liebe zum Pop und R&B der späten 90er- und frühen 00er-Jahre, lässt aber trotzdem keinen Raum für nostalgische Gefühle. Ambitioniert, originell und mit einem Schuss DIY-Charme katapultiert sie chillige Retro-Fragmente und einen Hauch von House, Techno und Garage facettenreich direkt in die Gegenwart und lässt sich dabei von der Freude am eigenen Tun beflügeln.
Als Musikerin mag Erika de Casier erst am Anfang ihrer Reise stehen, tatsächlich ist sie aber schon ziemlich weit herumgekommen. Geboren in Portugal als Tochter einer belgischen Mutter und eines kapverdischen Vaters, zog sie mit ihrer Familie im Alter von acht Jahren nach Dänemark, später verbrachte sie als Austauschschülerin ein Jahr in den USA. Beim Videocall mit der Westzeit muss sie deshalb erst einmal überlegen, was „zu Hause“ für sie tatsächlich bedeutet.„Das ist eine tolle Frage, geradezu philosophisch!“, sagt sie lachend. „Ich denke, für eine Weile kann ich mich überall zu Hause fühlen. Es kommt auf die Energie an, die du in den Ort investierst. Für mich ist zu Hause letztlich immer dort, wo gerade mein Koffer steht. Nicht, weil ich so viel reise, aber eben, weil ich in meinem Leben bereits so oft umgezogen bin. Es ist ein Klischee, aber ´zu Hause´ ist für mich eher ein Gefühl als ein Ort."
Trotzdem wirken die Erfahrungen, die sie als Kind in einem fremden Land mit einer für sie unbekannten Sprache machte, bis heute nach.
„Ich habe gelernt, mich schnell an neue Situationen anzupassen“, sagt sie. „Gleichzeitig bin ich aber auch immer auf der Suche nach Schutz und Behaglichkeit. Wenn ich an einen neuen Ort komme, stürze ich mich immer sofort auf die Dinge, die mir ein Gefühl von Sicherheit geben. So anpassungsfähig ich auch bin, möchte ich mich doch auch geborgen fühlen. Im Dänischen gibt es dafür das Wort Hygge, das für eine gewisse Gemütlichkeit, den besonderen Wohlfühlfaktor steht."
In Dänemark erlebt Erika als Kind schwarzes Leben vor allem auf der MTV-Mattscheibe. Ihr Faible für die schwarzen Popstars der Jahrtausendwende – Aaliyah, Destiny's Child, Craig David, Usher, Janet Jackson oder Toni Braxton – hallt bis heute in ihrer Musik nach, wenngleich sie auf ´Sensational´ die Zögerlichkeit des Erstlings gegen ein deutlich gesteigertes Selbstbewusstsein eintauscht. Mit einem feinen Gespür für Hooks, Soundshower und Melodien drückt sie dem Sound ihrer Idole nun mehr denn je den eigenen Stempel auf. Kein Wunder, dass sie zuletzt immer öfter als Europas große R&B-Hoffnung bezeichnet wurde und in einem Atemzug mit der Klassenbesten Dua Lipa genannt wurde. Nachdem sie bereits als Teenager begonnen hatte, an ersten eigenen Tracks zu basteln, und später mit dem Duo Saint Cava ihre ersten eigenen Songs veröffentlicht hatte, spielt für ihre Karriere als Solistin nicht zuletzt die Verbindung zum dänischen Produzenten-Kollektiv Regelbau eine gewichtige Rolle. Deren Natal Zaks hatte schon bei ´Essentials´ seine Finger im Spiel und griff Erika auch bei ´Sensational´ wieder als Co-Produzent unter die Arme. Entstanden ist dabei ein Sound, der mit einem großen Chill-Faktor glänzt und betont unaufgeregt daherkommt.
„Wenn die Tracks am Ende unangestrengt klingen, liegt das sicherlich auch daran, dass ich gemeinsam mit Natal viel Zeit darauf verwendet habe, dass alle Sounds aus dem gleichen Universum stammen“, erklärt sie.
Die smarten Texte der Songs sind derweil oft persönlich inspiriert, sie handeln von Zweisamkeit, Beziehungen, Kommunikation und anderen zwischenmenschlichen Dramen und zeigen Erika als selbstbestimmte Frau, die aus gescheiterten Beziehungen gestärkt hervorgegangen ist, auch wenn sie auf die Inhalte nicht gerne explizit eingeht, um dem Publikum Gelegenheit für eine eigene, persönliche Interpretation zu geben.
„Manchmal, wenn Künstler, die ich wirklich mag, über ihre Texte sprechen, denke ich nur: Nein, nein, nein! Ich will´s gar nicht hören, sonst ist das Bild ruiniert, das ich dazu im Kopf habe! Das ist ein bisschen so, als wenn ein Buch verfilmt wird und dann nichts so aussieht, wie du es dir in deiner Vorstellung ausgemalt hast! Wenn ich Texte schreibe, ist das für mich wie ein Puzzle. Manchmal finde ich dabei Antworten, manchmal wirft der Prozess noch mehr Fragen auf, das ist jedes Mal anders."
Doch nicht nur als Songschreiberin, Musikerin, Sängerin und Produzentin hat Erika die Zügel fest in der Hand. Auch bei ihren Videos zeichnet sie für Regie und/oder den Schnitt verantwortlich. Passend zu ihrem Auftreten und zu ihrer Musik haben auch die Clips einen sympathischen Lo-Fi-Anstrich – und das nicht allein wegen der begrenzten Budgets, die Erika bislang zur Verfügung hatte. Millionen in Videos zu investieren und sie als Kurzspielfilme zu inszenieren, wie das einst Madonna oder Janet Jackson getan haben, ist für Erika sympathischerweise selbst in der Theorie nur schwer vorstellbar.
„Ich wüsste vermutlich noch nicht einmal, wo ich anfangen sollte oder wie ich die erste Million ausgeben könnte“, gesteht sie lachend. „Letztlich nutze ich einfach die Mittel, die mir zur Verfügung stehen. Ich träume nicht von den Dingen, die ich mir nicht leisten kann, sondern mache das Beste aus dem, was ich habe. In der Hinsicht bin ich sehr praktisch veranlagt. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es diverse Kulturstiftungen gibt, bei denen man sich um zusätzliche Geldmittel bewerben kann, aber die Frage ist auch, ob es die Mühe wert ist!"
Zwar kann sich Erika durchaus vorstellen, ihre Clips irgendwann aufwendiger in Szene zu setzen, aber das ist für sie reine Zukunftsmusik.
„Im Moment fühle ich mich mit meiner Herangehensweise sehr wohl“, gesteht sie. „Ich mag´s am liebsten entspannt!“
Aktuelles Album: Sensational (4AD / Beggars Group / Indigo)
Weitere Infos: www.instagram.com/erikadecasier/ Foto: Dennis Morton