Genau so, wie to rococo rot Studio-Nomaden sind, sind sie Proberaum-Nomaden. Diesmal fällt die Wahl auf einen Raum in einer Tiefgarage. Weit hinten, hinter einer Oldtimer-Sammlung und hinter einem Lager, bis zur Decke voll mit Klavieren. „Dort haben wir uns getroffen, um an neuem Material zu arbeiten“, erklärt Robert Lippok, „keiner von uns war groß vorbereitet, die ersten Sachen sind wirklich dort entstanden.“
Die Physis von KlavierenUnd natürlich findet die Wirkung einer Umgebung aus alten Bentleys und Cadillacs sowie der Tasteninstrumente in großer Zahl Eingang ins Komponieren.
„So ein Klavier hat einfach eine gewisse Physis. Weil es ein so ein großer, schwerer Gegenstand ist“, nimmt Ronald Lippok den Gesprächsfaden seines Bruders auf, „noch dazu, wenn man 30 Stück davon um sich herum hat. Sie haben auch immer fröhlich mitmusiziert, weil ihre Saiten durch die Klänge im Raum waren, mitgeschwungen haben. Da wir zu diesem Zeitpunkt lauter Stücke hatten, die abrupt endeten, konnten wir den Nachhall der Klaviersaiten hören. Die Klaviere wurden so zu einem Instrument, das wir nicht beeinflussen konnten. Eins, das parallel zu unserer Musik ein Eigenleben führte. Die Klaviere haben mit gesummt und wir sind dann raus gegangen und haben uns die Cadillacs angeschaut.“
Auf alle Fälle hat das dazu geführt, dass to rococo rot danach mächtig Lust auf Klavier hatte. Und darauf, neue Elemente in ihre Musik zu integrieren.
„Dabei hatte es uns ein Element besonders angetan“, sagt Ronald Lippok, „diese Mitsummen der Klaviere provozierte bei uns den Gedanken, mit der menschlichen Stimme arbeiten zu wollen. Das ging sogar soweit, dass wir bei der arbeit an einigen der stücke die Stimme schon im Vorhinein hören konnten.“
Das Gefühlsgefüge der Stücke
Auf der Basis der in der Tiefgarage entwickelten Skizzen werden von to rococo rot anschließend in den unterschiedlichen Studios - dem Studio von Schneider TM, dem Studio Bleibeil von Bernd Jestram und dem LowSwing-Studio von Guy Sternberg- weiter bearbeitet. „Dabei gab es Material, das schon weit ausformuliert war und anderes, das so unfertig und roh war, das wir darüber mit unseren elektronischen Instrumenten improvisierten“, weiß Robert Lippok. Improvisation ist für die Platte ´instrument´ überhaupt ein wichtiges Stichwort; denn auch der auf drei Stücken vertretene Grenzgänger zwischen Pop und No Wave, der Sänger Arto Lindsay hat die Stücke mit seiner Stimme improvisatorisch weiter entwickelt und sie mit seiner brasilianischen Poesie und Sensitivität beseelt.
„Was uns an Arto Lindsay so fasziniert, ist seine ganz eigene Art, Melodien zu entwickeln“, darauf verweist Ronald Lippok, „wir wollten zwar Gesang, dennoch sollte sich das Gefühlsgefüge der Stücke nicht verändern. Wir wollten ein weiteres, anderes Element, eine andere Klangfarbe, eine die Musik erweitert aber nicht manipuliert. Es ging uns nie darum, ein Tabu zu brechen und ein ganzes Album mit Gesang zu machen.“
Die Stimme als Instrument
Anstatt die Aufmerksamkeit auf die Stimme und den Text zu ziehen, fügt sich Arto Lindsays markante Stimme fast wie ein weiteres Instrument in to rococo rots Klangkosmos am Rande der Universen zwischen Ambient und Elektronik ein. Womit wir dann gleich beim Plattentitel ´instrument´ wären. Von suggestiver Wirkung sind die Klänge von to rococo rot. Mal spüren sie dem Bruchteil eines Gedankens nach und produzieren Klänge von grenzenlos scheinender Flüchtigkeit, die sich in unbestimmter Ferne langsam auflösen. Mal sind die Noten wie ein Wildpferd, das gerade zugeritten wird und dementsprechend schon kontrolliert werden kann, dann ufern sie aus und vermitteln den Atem einer grenzenlosen Freiheit einer ganzen Herde ungezähmter, wilder Pferde in der Prärie. to rococo rot kennen die Schönheit lyrischer Bögen, wissen um strahlende Höhen von Melodien und scheuen sich aber auch nicht, Töne brachial zu zerbrechen. Ganz egal, welchen Weg das Trio beschreitet, nie wird zu dick aufgetragen. Alles bleibt dünnwändig, durchsichtig, wie ein transparenter Kokon und reduziert. Hatten to rococo rot in der Vergangenheit das Planetensystem Pop auch schon mal verlassen, haben sie mit ´instrument´ den Rücksturz. angetreten. Es gab Zeiten, da hat das Trio den Hörern das Hören schwer gemacht, die aber sind vorbei!
Aktuelles Album: instrument (City Slang/Universal Music)
Foto: Jens Oellermann