Ein Generalkonzept für die nächste, neue Platte hat auch Shantel nicht zur Hand. Obwohl sich stets ein neuer Weg in seinen Alben manifestiert. „Da ich aber immer an irgendetwas arbeite oder auf Tournee bin, schleichen sich dabei immer neue Ideen ein“, konstatiert er, „die bleiben entweder hängen oder eben auch nicht. Vielleicht ist dieses Heranpirschen und das anschließende Stärkerwerden von Ideen etwas, was einen inneren Zyklus eines Künstlers ausmacht. Und wenn es dann drängt, dann drängt es auch zur nächsten CD.“
Indonesische Rock’n’Roll BandsWas in den Augen von Shantel gar nicht geht, ist Rückblick; denn das, was es zu den vorhergegangenen Themen auf seinen Platten zu erzählen gab, das hat er auserzählt. „und was gäbe es unter künstlerischen Aspekten Schlimmeres, als sich selbst zu zitieren?“, fragt er mehr rhetorisch. Aber eins liegt allen Platten von Shantel zugrunde - ein richtig gute Geschichte. Da macht auch das neue Werk keine Ausnahme.
„Bei meinen Forschungen zum Vorgängeralbum, ‚Kosher Nostra’ stoße ich im Frankfurter Bahnhofsviertel auf Clubbetreiber, die in den 1950er und 1960er Jahren die musikalsische Unterhaltung für die GI´s organisierten“, beginnt Shantel zu erzählen, „meistens waren die Clubbesitzer Holocaustüberlebende, die schillernde Geschichten zu erzählen hatten. Und die haben dann noch irgendwelche alten Tonbänder rausgekramt und mir vorgespielt. Zu hören waren darauf indonesische Rock’n’Roll Bands, die aus Holland rüber kamen. Spätestens an diesem Punkt war ich hellhörig und sensibel. Und reflektiere den Klang des Gehörten und denke mir dabei, wenn ich eine neue Platte mache, dann will ich mich in dieser Klangästhetik bewegen.“
Damit ist der erste Schritt getan, der weg führt von dem Shantel, der hauptsächlich als Produzent eine Rolle spielt (etwa ´Disco Partizani´) und wo viel am Rechner passiert. Bereits in Gedanken kristallisiert sich der Musiker Shantel heraus.
Authentisch rockend und anarchisch
Auch die Bahnhofsviertelgeschichte zieht Shantel weg vom Rechner. Er möchte es scheppernd. Und er möchte es krachend. Authentisch rockend und anarchisch.
„Dann habe ich bei meinem Vater auch noch eine alte Rickenbackergitarre entdeckt und mich damit beschäftigt“, fährt Shantel fort, „das ist ein tolles Instrument. Doch diese Gitarre ist widerborstig, schwer zu handhaben. Und macht beim Spielen immer irgendwie Krach. Du musst es zuerst zu deinem Instrument machen, so wie ein Wildpferd zugeritten werden muss. Hat dann aber erkennbaren Charakter.“
Und zudem zeichnen sich diese Gitarren durch ihren spitzen, leicht grellen Klang aus. Ein Klang, der sich immer durchsetzt. Doch eine Gitarre allein schafft noch keinen krachenden Klangkosmos. Dazu bedarf es mehr. Beispielsweise analoger Aufnahmetechnik.
„Hier kommt auch die Mikrofontechnik ins Spiel“, fachsimpelt Shantel, „ich will bei den Aufnahmen auch mal ins Mikrofon brüllen dürfen oder sonst wie über die Stränge schlagen. Da kann ich eine betuliche Mikrofonästhetik nicht brauchen. Da hat mich ein Techniker mit Bändchemikrofonen vertraut gemacht. Du kannst damit alles machen und es ist genial. Es ist einfach nicht zimperlich.“
Als die Rahmenbedingungen ausgemacht waren, hat sich Shantel seine Band geschnappt, mit der er auch sonst auf den Tourneen unterwegs ist, hat intensiv mit ihr gearbeitet. Dann wird im Studio mit der gesamten Truppe aufgenommen. Und so klingt auch das aktuelle Album ´Anarchy + Romance´. Üppig und süffig. Vehement und präsent. Aber nicht kompliziert oder pompös.
Die legendären Hansastudios
Wessen Name in Verbindung mit den legendären Berliner Hansastudios genannt wird, dessen Name ist meist ein großer. David Bowie gehört dazu oder Depeche Mode, Marillion, Falco, Nick Cave und U2.
„Es hat natürlich etwas mit den heute komplett veränderten Produkionsbedingungen zu tun, dass ein Künstler, wie ich diesen wunderbaren Räumlichkeiten arbeiten konnte. In einer zeit, in der jeder im Schlafzimmer Platten aufnehmen kann, fallen die Preise für solche exzellenten Studios ins Uferlose.“
Und solch ein Raum hat auch immer Patina und atmet seine Geschichte dann aus, wenn andere Künstler in ihm arbeiten. Genau das ist auch bei ´Anarchy + Romance´ der Fall. Der Spannungsbogen, die Anmutung oder der Ausdruck von Shantels Platte ist geprägt vom Gefühl der Hansastudios einerseits und vom Einsatz der angesprochenen analogen Technik. Auch wird so ein Spannungsbogen erzeugt, der seinen großen Reiz auch daraus zieht, dass Fehler ihren Platz haben dürfen, ja sogar müssen. Schließlich sind diese vermeintlichen Fehler ja nichts anderes, als Ergebnisse eines Menschen im Rahmen seines künstlerischen Schaffens. Und damit ein wunderbares Statement für die Menschlichkeit in der Kunst.
„Warum also sollten diese Fehler vertuscht, bearbeitet oder ausradiert werden?“, fragt Shantel und hat damit die beste Erklärung für seinen charmanten, räudigen Klangkosmos gegeben.
Gesunder Dilettantismus
Shantel redet auf dem gesamten Album der Reduktion das Wort. Es geht um Reduktion, was die Technik anbetrifft, um Reduktion was die den kreativen Ansatz anbetrifft. „Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass gesunder Dilettantismus zu hoher Kunst werden kann“, fügt er an. Die Linien sind klar, die Formen durchdacht, die kreativen Lösungen gradlinig. Und genau das führt zu Ecken und Kanten. Und der überraschende, nicht kalkulierbare
Moment von Shantel Musik wird dann spürbar, wenn er seine Musik um diese Ecken biegen oder über die Kanten fallen lässt. Im subtilen Spiel zeigt er gekonnte Zurückhaltung, das aber genau dadurch reichlich Raum zum Wirken hat. Und Tiefe entfaltet. Um all das Angesprochene noch zu verstärken, hat sich Shantel zusätzlich eine illustre Schar von Gästen eingeladen. Darunter Justin Adams, der zurzeit die rechte Hand von Ex-Led Zeppelin-Gitarrist von Robert Plant, Sängerin Cherilyn MacNeil und Gitarristin Emma Greenfield von der Neo-Folk-Band Dear Reader, die für den ausgezeichneten Film ´Oh Boy´ den Titelsong beigesteuert haben, dann die Bass-Legende Ken Taylor, der schon John Mayall, Jimmy Cliff oder Desmond Dekker mit seinen tiefen Tönen zur Seite stand, last not least erklingen auf der CD noch Streicher der Jungen Philharmonie Frankfurt am Main. Zusammengefasst kann gesagt werden, mit ´Anarchy + Romance´ erfindet sich Shantel ein weiteres Mal einfach neu - skurril, surreal, vieldeutig, originell.
Gleichzeitig mit dem Album ´Anarchy & Romance“ erscheint das von Shantel herausgegebene und streng limitierte Alright Magazin – ein Kompendium für Politik, Musik, Kunst und Lifestyle. Es enthält Beiträge über das berühmte Frankfurter Rotlichtviertel und seine Beat-Clubs der 1950er und 1960er Jahre, einen Zeitzeugenbericht über das Hanau der 1960er Jahre und wie dabei zufällig Punkrock erfunden wurde, ein Essay über die Geschichte des Rock’n‘Roll in Deutschland und wie indonesische Rock-Bands dabei Entwicklungshilfe leisteten, eine Fotostrecke von Horst A. Friedrichs zum Thema „The Kiez Is Alright“- so verschwendete ich meine Jugend.“
Aktuelles Album: Anarchy + Romance (Essay Recordings / Indigo)
Foto: Matthias Hombauer