Hunger ist eine zweischneidige Angelegenheit. Auf der einen Seite verursacht es ein unangenehmes Gefühl im Bauch, macht dementsprechend unzufrieden und sorgt für eine eingeschränkte Fokussierfähigkeit auf anderweitige Dinge. Auf der einen Seite ist Hunger immer auch ein Antriebsquelle, unanfechtbarer Beweis von Lebendigkeit und deklariert die gesellschaftlichen Konsumwünsche zur popligen Nebensache. Rainer Hartman & die Band Kauz - bekannt und geschätzt als Rainer Von Vielen - jedenfalls haben nach wie vor großen Appetit und belegen damit eindeutig ihre Lust auf Mehr: Musik, Kompositionen, Proben, Auftritte, Sex & R´n´R!!
Rainer hat so einen Heißhunger, dass er Mitglied der Percussionband Orange, Co-Autor von Anne Clark, Songwriter für Kurzfilm- & Theater-Produktionen und bisweilen Backingbandmitglied von Thomas D ist. Fakt ist, dass der umtriebige Allgäuer und Band auf ihrem nunmehr dritten gemeinsamen Album ihren HipHop- & Elektrobeat-geschwängerte Musik mit einer Dosis Rock, einem Löffel Pop samt einem Gran Allgäu-Folk gewürzt und das Ganze auf großer Flamme gekocht haben, um uns ihren heißen Scheiß kochendheiß servieren zu können.Dabei ist die Bezeichnung eigentlich Quatsch, „unseren Bastardpop haben wir ja schließlich auch mit andere Spielarten wie Funk, Soul, Reggae, Blues, Punk, Jazz und deutschsprachiger Rap angereichert“.
Herausgekommen ist ein leckerer und bekömmlicher Sound-Eintopf namens „Milch & Honig“. Eine Ausbeute, die das diametrale in unserer Gesellschaft travestiert: „auf der einen Seite die biblische Utopie des gelobten Landes und auf der anderen Seite unsere Heimat, den Allgäu mit seinen Kühen und die Milch, beleuchtet.“
Von daher wurzeln die 13 musikalischen Geschichten im Hier und Jetzt, mitten in unserer Gesellschaft, die uns beeinflusst.
„Die 13 Songs freilich beeinflussen unsere Umwelt, sie haben kein urbanes Geäst, kennen keine Gratwanderung zwischen Pop u. kulturellem Anspruch“, sie sind es, die musikalische Horizonte vereinen, was die Schifferklavier-Version von Sidos „Mein Block“ bestärkt.
Während andere Gruppen ihrem Soundbrei mit einer kleinen Prise Rock und Hip Hop lediglich noch ein wenig Würze verliehen haben, ziehen sich diese Zutaten bei Rainer Von Vielen durch jeden Track ihres leckeren und cleveren 13-Gänge-Crossover-Menüs. Eine Band, die sich selbst weder als Hip Hop-Kombo mit starken Elektro-Ragga-Pop-Einflüssen, noch als Folkrock-Quartett mit massiven Punk-Wurzeln versteht.
„Wir sind eine Band, die sich lediglich sämtlicher Bestandteile der Rap- & Rock-Historie bedient, um letztendlich schmackhaft Geschichten aufzutragen, die was zu sagen haben. Denn Geschichte schreiben nur Gewinner“.
Sie pfeifen auf all die aufgestellten Regeln, die andere Leute um die Musik aufgezogen haben und erzählen ihre Geschichten durch Überschreitung sämtlicher Genre-Grenzen. Das Album beinhaltet daher weit mehr als bloß ein paar schmackhafte Ohrenschmeichler im Rap´n´Rockmantel, sondern ist ein vertontes Rezeptbuch, „mit dem jeder einzelne dazu angehalten werden soll, sich sein eigenes Kreativsüppchen zu kochen. Außerdem ist „Milch & Honig“ eine Chronik des Überkonsums“ und gleichzeitig instrumentierter Ernährungsratgeber über ´Die Illusion´, ´Groß Und Leer´, ´Kein Zurück´ und ´Sicher Ist Sicher´.”
Aber es geht auch um Liebe und darum, was mit der Gesellschaft passiert, wenn ihr dieses menschliche Grundbedürfnis vorenthalten wird. Es geht darum, was einen auffrisst in der heutigen Zeit und wie man dagegen angehen kann. Obwohl das Album keine schwere Kost ist, verdaulicher wird die Thematisierung von Politik und Motiven jedoch nicht. Keine Blähungen entstehen höchstens dadurch, „dass wir Gefühle transportieren, die nachempfunden werden können. Zuerst muss unsere Musik den Kopf und das Herz erreichen, denn dann werden die Inhalte automatisch folgen.“
Und all das wird mit Rainers Kehlkopf-Obertongesang und der musikalischen Frische seiner Band vorgetragen, die vom Tonabnehmer direkt in die Ohrmuschel verfüttert wird, ohne zuvor erst umständlich weichgekocht zu werden.
Aktuelle Album: Milch & Honig (Motor / Rough Trade)
Foto: Christian Elmer