Nach sieben Jahren Pause kehrt "the most talented troubadour of our generation", wie Natalie Merchant unlängst sehr treffend bezeichnet wurde, zurück ins Rampenlicht. "Leave Your Sleep" heißt das ambitionierte Werk, mit dem die ungemein einflussreiche amerikanische Singer/Songwriterin dem Pop den Rücken kehrt und stattdessen auf literarisch wertvolle, filigrane, Weltmusik-umwehte Folksongs setzt.
Natalie Merchant hat in ihrem Musikerleben alles richtig gemacht. Mit den 10.000 Maniacs, der Band, die sie 1981 im Teenageralter gegründet hatte, genoss sie stets Kultstatus, obwohl sich ihre Platten in späteren Jahren verkauften wie geschnitten Brot. Den Zweiflern, die 1993 ihren Ausstieg aus der Band nur mit einem Kopfschütteln quittierten, bewies sie mit ihrem vier Millionen Mal verkauften Solo-Erstling "Tiger Lily", dass sie auch als Solistin mehr als nur bestehen konnte. Anfang des neuen Jahrtausends kehrte sie dann zunächst ihrem Majorlabel den Rücken und verschwand nach "The House Carpenter's Daughter", einem 2003 in Eigenregie veröffentlichten Album mit Folk-Coverversionen, fast völlig aus der Öffentlichkeit. Nun startet sie ihr Comeback.Während sie die vornehmlich akustisch gehaltene, aber dennoch eine ungemein große Bandbreite abdeckende Musik auf "Leave Your Sleep" selbst schrieb, stammen die Texte von Schriftstellern wie Robert Louis Stevenson, Edward Lear, Gerard Manley Hopkins oder E. E. Cummings.
"Der Grund dafür ist, dass ich jetzt ein Kind habe", erzählt sie, als wir sie letzten November vor ihrem wundervoll intimen Auftritt im winzigen Berliner Roten Salon treffen. "Musik kann ich problemlos in allen möglichen Situationen schreiben, aber um eigene Texte zu verfassen, benötige ich völlige Isolation. Es ist fast so, dass ich dann in einen Zustand der Selbsthypnose verfalle. Aber isoliert, hypnotisiert und gleichzeitig Mutter zu sein – das wäre eine ziemlich schlechte Kombination (lacht)."
Trotzdem war die Mutterrolle der Ausgangspunkt für das neue Album.
"Die Grundidee war ursprünglich ein musikalischer Sammelband mit Gedichten für Kinder. Deshalb gibt es so viele Nonsens-Texte und Kinderreime auf dem Album. Als die Arbeit dann fortschritt, stieß ich aber auf immer komplexere und anspruchsvollere Gedichte – nicht für, sondern über Kinder und das Thema Kindheit", erklärt Merchant ihre Motivation. "Bevor ich dieses Projekt in Angriff nahm, wusste ich nicht viel über Poesie, deshalb war die Arbeit praktisch meine Annäherung an das Thema."
Doch nicht nur was Form und Inhalt der Texte angeht, betrat die 46-jährige Amerikanerin Neuland. Allein die aufwendige, mit Informationen und Fotos über die Autoren vollgestopfte Verpackung des Albums, die mehr an ein Buch denn eine konventionelle Platte erinnert, verschlang ungeheuer viel Zeit, ganz zu schweigen von der Koordination der 130 Mitstreiter – darunter das Wynton Marsalis Quintet, The Klezmatics und das Chinese Music Ensemble Of New York –, die Merchant für die ausschließlich live in Ensembleform im Studio aufgenommenen Songs aktivierte, und den rechtlichen Klippen, die es zum umschiffen galt.
"Ich habe eine Menge gelernt über Copyright-Gesetze, die Art und Weise, wie die Nachlässe von Schriftstellern verwaltet werden und wie Fotoarchive arbeiten", erzählt sie. "Ich bin ein ausgesprochen gut organisierter Mensch, aber dieses Projekt war dennoch eine große Herausforderung. Wir mussten die Schriftsteller oder ihre Erben finden, die Verleger kontaktieren und letztlich Verträge ausarbeiten. Es war eine Riesenarbeit. Mit einer Ausnahme bekamen wir letztlich aber alle nötigen Freigaben. Ich hätte zwar auch gerne etwas von A. A. Milne vertont, aber Walt Disney hat damals alles von ihm abgeräumt, als er die Rechte an 'Winnie The Pooh' erwarb. Abgesehen davon gab es keine Probleme. Viele der Kinder, Enkel und sogar Urenkel der Autoren waren über das Projekt hocherfreut und zeigten sich vom Ergebnis begeistert. Eines der Gedichte wurde 1925 von einem zehnjährigen Mädchen geschrieben. Ich war dann mit ihrem heute 97-jährigen Ehemann in Kontakt, der den Song so großartig fand, dass er noch nicht einmal bezahlt werden wollte."
Kein Wunder, schließlich ist dieses Projekt wie gemacht für Merchant. Bei aller Ernsthaftigkeit, mit der sich die auch sozial und politisch stark engagierte Künstlerin ihrer Arbeit nähert, schwingen doch stets eine juvenile Lebensfreude und eine ansteckende Fröhlichkeit mit, der man sich nicht entziehen kann. Das gilt auch für "Leave Your Sleep" und unterstreicht die Ausnahmestellung dieser wirklich einzigartigen Künstlerin.
Aktuelles Album: Leave Your Sleep (Nonesuch/Warner Music)
Weitere Infos: www.nataliemerchant.com Foto: Mark Seliger