Man kann es kreativen Spielraum nennen. Man kann es musikalischen Gemischtwarenladen nennen, was TV On The Radio da auf ihrem jüngst erschienenen Album „Dear Science“ zelebrieren. Man es kann aber auch mit den Worten von Multiinstrumentalist David Andrew Sitek erklären, „Musik ist verdammt noch mal das flexibelste Medium der Welt.“ Recht hat er und TV On The Radio haben Flexibilität schlichtweg zu Ende gedacht und nicht auf halber Strecke schlapp gemacht. Was sie aber getan haben, sie haben auf ihrer Tour de Force hin und wieder angehalten, sind ausgestiegen, haben dort ein Notenblümlein gepflückt, hier ein kleines Sample aufgesammelt und später dann noch Taktspuren eingepackt. Und haben damit den aktuellen Beweis angetreten, der Mensch, oder sollte ich sagen, der Mann ist ein Jäger und Sammler.
Loops und WiederholungenSo voll bepackt wie nie in ihrer Bandgeschichte ist das Quintett aus Brooklyn ins Studio gegangen. Haben sie auf den letzen CDs die Melodien noch fein säuberlich unter Mixen begraben. So heben sie diesmal die Melodieschätze, bringen sie an Licht und lassen zu, dass sie dort ihre schönsten Blüten treiben.
„Die Basis unserer Arbeit sind immer noch Loops und Wiederholungen, aber geschickter montiert, viel geschickter. Und hat irgendjemand von uns jemals gesagt, dass wir was gegen Melodien haben?“, kontert Sänger Tunde Adebimpe.
„Durch das Trauma unserer Geburt sind wir praktisch hineingeworfen in einen Zyklus von unaufhörlichen Wiederholungen. Alles wiederholt sich. Vom Herzschlag angefangen bis hin zu unseren alltäglichen Routinen. Wenn du dann den Blick mal musikalisch auf Afrobeat und African Highlife schweifen lässt, dann hörst du, sie basieren fast ausschließlich auf Wiederholungen. Kommt nicht gerade daher der hypnotische Effekt dieser Musik?“, ergänzt David Andrew Sitek. Hypnotisch ist für die Musik von TV On The Radio wohl nicht der richtige Ausdruck. Beim Hören ihrer Musik fühl man sich richtiggehend schwindlig gespielt.
Aufgetürmte Klangpuzzles
Im Studio wird gefrickelt, was das Zeug hält. Kleinteilig wird wiederholt und umgekehrt oder beschleunigt und verlangsamt, dann wieder zerlegt. Da wird kühn die Musikgeschichte geplündert, aber nicht in Form von Zitaten oder Interpretationen, sondern TV On The Radio vermitteln Ahnungen oder Anmutungen von musikhistorischen Klangfarben. Da bricht an einer Stelle Michael Jack son durch oder Prince. An einer anderen grüßen The Ramones oder Cream. An der nächsten lauern Jazz oder Soul. Clever aufgetürmte Klangpuzzles fließen in ein Gesamtkunstwerk aus Musik und politischer Aussage ein. Multischichtig, aber immer transparent. Voller spaciger Magie. Wollte man diese eigenen, neuen Töne beschreiben, müsste dafür eine endlos lange Liste von Stilen herhalten. Diese Aufzählung, egal wie lang sie ist, müsste aber immer mit „und mehr“ enden. Das Ganze erinnert an einen Koch, der ein Rezept preisgibt, dies aber nur bis zu einem gewissen Punkt tut und dann auf ein Familiengeheimnis in der Würzmischung verweist. Jedes einzelne Stück von TV On The Radio gibt den Blick frei auf unendliche, äußerst farbige Soundlandschaften.
„Das mit den Landschaften ist gar nicht so weit hergeholt“, bekräftigt Tunde Adebimpe, „wir komponieren schon ein wenig anders als es sonst Bands tun. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass einige von uns auch bildende Künstler oder Filmemacher sind und diese Techniken übertragen, weil sie übertragbar sind und der Musik gut tun.“
Überraschend anders
Bei „Dear Science“ handelt es sich eindeutig um eine Platte, die den Hörer fordert. Kein Stück ist vordergründig und trabt gemächlich in Richtung Easy Listening. Da ist schon mehrfaches Hin- und Wiederhören gefragt. Wer sich darauf einlassen kann, dem wird unmittelbar klar, dass TV On The Radio für eins ganz sicher nicht stehen, für eine bestimmte, klar zu umgrenzende musikalische Ausrichtung. Das hat allerdings einen ganz großen Vorteil. Die Alben überraschen. Immer wieder aufs Neue. Da macht das aktuelle „Dear Science“ keine Ausnahme. Auch wenn dieses Album ein Sieben-Meilen-Stiefel-Schritt in Richtung Popmusik ist. Und wie viele Bands sind heutzutage noch wirklich in der Lage musikalisch zu überraschen?
Aktuelles Album: Dear Science (4AD / Beggars / Rtd)